Kafka lesen: Der Kreisel, neue textbegleitende Interpretation - Was aus meinen Träumen wurde

Direkt zum Seiteninhalt
.




„Verschiedene Kreisel“ in Pieter Bruegels (1526/30-1569) Gemälde Die Kinderspiele (1560)
(Attr. Pieter Brueghel the Elder, Public domain, via Wikimedia Commons)
Kafka lesen: Der Kreisel (1920)

Nachgelassene Schriften und Fragmente II [9] [„Konvolut 1920“] [siehe]
Ein Philosoph trieb sich immer dort herum wo Kinder spielten
[Da der Titel nicht von Kafka stammt, ist zunächst der erste Satz wichtig. Es geht um einen Philosophen und Kinder und, wie die folgenden Sätze zeigen, um deren Verhältnis zu einem Kreisel. Wie in Auf der Galerie werden dabei zwei unterschiedliche Verhaltensweisen gegenübergestellt. Auffällig ist auch, dass das Verhalten des Philosophen als Herumtreiben beschrieben wird, was nicht gerade von Respekt gegenüber diesem zeugt.]

Und sah er einen Jungen, der einen Kreisel hatte lauerte er schon. Kaum war der Kreisel in Drehung, verfolgte ihn der Philosoph um ihn zu fangen.
[Auch dass der Philosoph lauert, den Kreisel verfolgt und ihn zu fangen versucht, entspricht nicht der gängigen Vorstellung von einem Philosophen. Die Satzkonstruktion zusammen mit dem immer im ersten Satz zeigt, dass es sich um einen Vorgang handelt, der immer wieder aufs Neue geschieht, ähnlich wie im ersten Teil von Auf der Galerie.]

Dass die Kinder lärmten und ihn von ihrem Spielzeug abzuhalten suchten kümmerte ihn nicht, hatte er den Kreisel, solange er sich noch drehte, gefangen, war er glücklich, aber nur einen Augenblick, dann warf er ihn zu Boden und ging fort.
[Der laute Protest der Kinder kümmert ihn nicht. Ihm geht es ja um das Prinzip, um das Wesen einer Sache. Da kann er keine Rücksicht nehmen. Es geht ihm um den Kreisel, solange dieser sich dreht, was ja sein Wesen ausmacht. Dass er gerade dieses durch seine Fangversuche verhindert, hätte ihm als kritisch-rationalem Denker sofort klar sein müssen. Doch das kurze Glück und die anschließende völlige Enttäuschung zeigen, wie sehr er von dem Phänomen des Kreisels fasziniert ist und es daher immer wieder versucht.]

Er glaubte nämlich, die Erkenntnis jeder Kleinigkeit, also z.B. auch eines sich  drehenden Kreisels genüge zur Erkenntnis des Allgemeinen.
[Hier zeigt sich der Grund für diese Faszination. Er glaubt, ein grundlegendes Erkenntnisprinzip gefunden zu haben. Dass er bei der Anwendung dieses Prinzips dann aber einfache Grundregeln menschlicher Erkenntnis außer Kraft setzt und sich geradezu irrational verhält, wird von Kafka in den vorhergehenden Sätzen ironisch beschrieben. Dabei ist die Faszination, die vom Kreisel ausgeht und die natürlich vor allem auch die Kinder spüren, durchaus nachvollziehbar. Sie liegt darin, dass der Kreisel umso ruhiger steht je schneller er sich dreht. Philosophischer gesagt liegt sie also in der Einheit von Ruhe und Bewegung (mit der sich auch Kafka beschäftigt hat, etwa wenn er dem Philosophen Zeno die Aussage zuschreibt: „Der fliegende Pfeil ruht.)] [mehr dazu]

Darum beschäftigte er sich nicht mit den grossen Problemen, das schien ihm unökonomisch, war die kleinste Kleinigkeit wirklich erkannt, dann war alles erkannt, deshalb beschäftigte er sich nur mit dem sich drehenden Kreisel.
[Der Philosoph will rational und ökonomisch handeln, basierend auf dem Satz war die kleinste Kleinigkeit wirklich erkannt, dann war alles erkannt, der gleichsam den Dreh- und Angelpunkt dieses Textes bildet. Es zeigt sich hier, dass der Text selbst in etwa einen Kreisel nachbildet mit der in diesem Satz ausgedrückten anscheinend unumstößlichen Wahrheit als Achse und ruhendem Mittelpunkt. Davor und danach ist alles in Bewegung und  und instabil, besonders an der Peripherie (im ersten und letzten Satz), wie die Verben herumtreiben und taumeln zeigen. Die auffällige Wiederholung von beschäftigte er sich lässt außerdem eine Symmetrie erkennen von Ausdrücken, die in etwa gleichem Abstand vom Mittelpunkt wiederholt werden.] [mehr dazu]

Und immer wenn die Vorbereitungen zum Drehen des Kreisels gemacht wurden, hatte er Hoffnung, nun werde es gelingen und drehte sich der Kreisel, wurde ihm im atemlosen Laufen nach ihm die  Hoffnung zur Gewissheit, hielt er aber dann das dumme  Holzstück in der Hand, wurde ihm übel und das Geschrei der Kinder, dass er bisher nicht gehört hatte und das ihm jetzt plötzlich in die Ohren fuhr, jagte ihn fort, er taumelte wie ein Kreisel unter einer ungeschickten Peitsche.
[Symmetrisch zum ersten Teil werden hier wieder die Fangversuche des Philosophen beschrieben. Aber trotz des „immer am Anfang hat man, wenn man der Bewegung des Textes folgt, den Eindruck dass das Geschehen hier zu einem Abschluss kommt, bewirkt durch die „atemlos-dynamische Schilderung in einer einzigen langen Periode.
Im ersten Teil hatten wir es mit kurzen, präzisen Aussagen zu tun, in denen objektiv und emotionslos das Verhalten des Philosophen beschrieben wird. Diese Darstellungsweise entspricht der Haltung, die wir normalerweise von einem Philosophen erwarten und die wir auch im ersten Teil von Auf der Galerie finden. Lediglich in den Verben „herumtreiben und „lauern wird ein der Distanziertheit und Würde des Philosophen nicht gemäßes Verhalten ironisch angedeutet, ebenso wie in seinem kurz aufsteigenden Glücksgefühl, das schnell der nüchternen Einsicht in sein Scheitern weicht.
Demgegenüber besteht die Beschreibung desselben Vorgangs im zweiten Teil nur aus einer einzigen Periode, die eine immer stärker emotional bestimmte Haltung des Philosophen zeigt. Er lässt sich mehr und mehr von seinem Gefühl tragen, so dass ihm seine Hoffnung schließlich zur Gewissheit wird, nur um dann mit einem Schlage dem entgegengesetzten Gefühl der Übelkeit zu weichen. Sein emotionales, irrationales Verhalten zeigt sich auch, wenn er den Kreisel als „dummes Holzstückbezeichnet, obwohl natürlich klar ist, wer hier allein der Dumme sein kann. Das „atemlose Laufen und „Taumelndeuten einen geringeren Grad von Bewusstheit und Selbstkontrolle an. Durch die im Vergleich zum ersten Teil fast dramatische und gefühlsbetonte Schilderung wird auch der Leser gefühlsmäßig in den Vorgang hineingezogen und versteht diesen als einmaliges, abschließendes Geschehen, mit dem die Versuche des Philosophen in seinem Taumeln „wie ein Kreisel unter einer ungeschickten Peitsche enden.
Es ergibt sich also, dass Haltung und Bewusstsein des Philosophen im zweiten Teil deutlich verändert sind. So kann man sich kaum noch vorstellen, dass er nach dieser Erfahrung wieder zur Haltung des ersten Teils zurückkehrt und seine Beschäftigung mit dem Kreisel beharrlich fortsetzt. Diese Bewusstseinsänderung erscheint vornehmlich unter negativem Aspekt, als Übelwerden und in seiner emotionalen und irrationalen Reaktion.
Im Gegensatz zu Auf der Galerie, wo die grundsätzlich verschiedenen Haltungen der beiden Galeriebesucher unvermittelt nebeneinander gesetzt sind, ist im Kreisel dagegen im zentralen Bild des Kreisels die Möglichkeit einer Vermittlung ausgedrückt. Zwar kann man nicht sagen, dass diese dem Philosophen gelingt, aber eine Entwicklung in dieser Richtung ist zumindest angedeutet. Derselbe Philosoph, der in der Gewissheit seines reflektierenden Bewusstseins, wie sie im Mittelsatz ausgedrückt ist, sich ganz von der Wirklichkeit gelöst hatte, wird sich nun der Grenzen dieses Bewusstseins in einer schmerzlichen, geradezu körperlichen Erfahrung bewusst („wurde ihm übel, „er taumelte). Auch „das Geschrei der Kinder, das er bisher nicht gehört hatte und das ihm jetzt plötzlich in die Ohren fuhr, weist darauf hin. Er ist jetzt offen für solche neue Erfahrungen, die hier allerdings ganz unter negativem Vorzeichen, als Zerrbilder einer positiven Möglichkeit erscheinen. Sicher ist er weit entfernt von einer Integration beider Haltungen, der Fähigkeit, sich ganz dem Gegenstand hinzugeben, ohne dabei sein reflektierendes Bewusstsein zu verlieren.
Dennoch scheint mir dies als Möglichkeit für den Philosophen zumindest angedeutet, wenn es am Ende von ihm heißt: „er taumelte wie ein Kreisel unter einer ungeschickten Peitsche. Dass er mit dem Kreisel verglichen wird, zeigt, dass etwas vom Wesen seines Erkenntnisgegenstandes auf ihn übergegangen ist. Das „Taumeln scheint dabei, wie das „Weinen am Ende von Auf der Galerie, nicht nur negative Bedeutung zu haben. Es bleibt die Möglichkeit offen, dass er, im selben Bild gesprochen, unter einer geschickteren Peitsche nicht mehr taumelt. Überdies kann der Begriff des ‚Taumelns' und deutlicher noch der des ‚Taumels' in Verbindungen wie ,Freudentaumel', 'Begeisterungstaumel' durchaus positive Bedeutung haben. Er kommt in die Nähe von Begriffen wie ‚Trunkenheit' und ‚Rausch', die ja oft mit dem Schöpferischen in Zusammenhang gebracht werden. Man kann hier auch, zumal es sich um einen Philosophen handelt, an Nietzsches Begriff des ‚Dionysischen' denken, im Gegensatz zu der anfänglichen ,apollinischen' Haltung des Protagonisten. So wird am Ende das auf den ersten Blick so vollständige und geradezu kläglich erscheinende Scheitern des Philosophen gemildert durch die hier angedeutete neue Möglichkeit, die sich aus seinem veränderten Bewusstsein ergibt.]
Zurück zum Seiteninhalt