Auf der Galerie - Was aus meinen Träumen wurde

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Der Text:

Franz Kafka, Auf der Galerie (1917)
Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind - vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, rief das - Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.
Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet; vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüberwindung es knallend gibt; neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin scharfen Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann; mit englischen Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden Reitknechte wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem großen Salto mortale das Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge schweigen; schließlich die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide Backen küßt und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht, mit ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will - da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.
(Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen. Hrsg. von P. Raabe. Frankfurt 1970, S. 129)

Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938), Zirkusreiterin (1913)



                                                                                            
Kafkas Auf der Galerie: Bild der Ausweglosigkeit auch der Kafka-Forschung?
in: Doitsu Bungaku 71, 1983, S. 118-127
Gerhard SCHEPERS

Kafkas kurzes Prosastück Auf der Galerie gehört zu seinen am häufigsten interpretierten Werken. Überblickt man allerdings die Ergebnisse der bisherigen Forschung, so erscheint die Bilanz im Kafka-Jahr nicht gerade ermutigend. Friedrich Nemec kritisiert „die Vielfalt der wissenschaftlichen Betrachtungsweisen“ als „bloßen Nachvollzug der manifesten Absichten“1) und betont, dass die „Urteile über Kafkas Gleichnisse der Ausweglosigkeit“ selbst „ein Bild der Ausweglosigkeit" bieten.2) Im Gegensatz dazu stellt Gerhard Neumann im Kafka-Handbuch die verschiedenen, oft gänzlich disparaten, Interpretationen einfach nebeneinander, als wenn ihre Summe gleichzusetzen sei mit dem Ergebnis der bisherigen Forschung.3) Das Problem, das hier angesprochen wird, ist grundlegend für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Kafka. So dürften die folgenden Überlegungen nicht nur für die Interpretation der Skizze Auf der Galerie von Bedeutung sein.

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Zunächst muß man feststellen, dass zumindest was Auf der Galerie betrifft — die Situation der Kafka-Forschung nicht ganz so hoffnungslos ist, wie es Nemecs harte Kritik und Neumanns unkritischer Positivismus anzuzeigen scheinen. Viele, besonders frühe und didaktisch ausgerichtete, Deutungen sind zweifellos wenig überzeugend oder sogar gänzlich verfehlt.4) Oft wird aber auch Nemecs Kritik den Interpretationen keineswegs gerecht, besonders im Falle von Jörgen Kobs und Peter U. Beicken.5)
Letzterer hatte bereits überzeugend eine Entwicklungslinie gezeichnet, die man durchaus als Weg der Forschung zu einem vertieften Verständnis des Stückes ansehen kann. Die gängige Interpretation lautet nach Beicken so: „Der erste, der Konditionalsatz präsentiert die Realität, wie sie wirklich ist, wie sie aber erkenntnismäßig nur als Vorstellung erfaßt werden kann, während das im Realis Ausgesagte die schöne Welt des Scheins, der Illusion, der Lüge, die täuscht, festhält."6) Bei Hartmut Binder und auch noch bei Nemec erscheint diese Deutung modifiziert als Gegensatz von Wahrheit und Wirklichkeit,7) bei Herbert Kraft als „unwirkliche Realität" und „Wirklichkeit des Scheins".8) Diese Begriffe deuten an, welche Schwierigkeiten sich ergeben, wenn man das in den beiden Sätzen Dargestellte als zwei getrennte objektive Wirklichkeiten beschreiben will. Außerdem erscheint es angesichts der zahlreichen Verzerrungen und Übertreibungen im ersten Teil („hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin", „vom . . . erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundumgetrieben", „in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft")9) kaum möglich, diesen als „wahre" oder „wirkliche" Realität zu bezeichnen,10) ganz abgesehen davon, dass es sich um einen irrealen Bedingungssatz handelt.
Noch wichtiger ist allerdings, wie Beicken zu Recht betont, die zuerst von Klaus-Peter Philippi herausgestellte „perspektivistische Bezogenheit des Dargestellten auf den Galeriebesucher hin".11) Nach Philippi zeigt bereits der Titel an, dass es nicht primär um das Geschehen in der Manege geht, sondern um das, was „auf der Galerie", was dort in dem Besucher vorgeht.12) Nicht zwei verschiedene Ereignisse werden beschrieben, sondern zwei unterschiedliche Sehweisen desselben Vorgangs.13) Diesen Ansatz hat Kobs aufgenommen.14) Seine sorgfältige Analyse ist meines Erachtens der bisher überzeugendste Versuch einer Deutung des Stückes. Dennoch bleiben auch bei ihm verschiedene Fragen offen. Nicht gelöst scheint mir vor allem das Problem einer angemessenen Charakterisierung und Zuordnung der in den beiden Sätzen dargestellten Sehweisen. Den ersten Teil bezeichnet Kobs als „reine Reflexion", während er im zweiten Teil zunächst von „Beobachtung" und dann in bezug auf die Reaktion des Galeriebesuchers am Schluß von „reinem Ausdruck" spricht.15) Diese Dreiteilung entspricht aber nicht der Symmetrie des Textes. Es fehlt bei Kobs eine einleuchtende Begründung, warum die „dritte Form der Sehweise", die am Schluß „nur kurz aufleuchtet", sich „gleichrangig neben die beiden anderen" stellt.16) Außerdem kann man den „reinen Ausdruck" wohl kaum als „Sehweise" bezeichnen, ebenso wenig wie die Reaktion des Galeriebesuchers im ersten Satz, die man im Hinblick auf den klar gegliederten Aufbau des Textes ebenfalls gesondert abheben müßte.
Das Problem hier ist also, dass der Begriff der 'Sehweise' nicht ausreicht, um alle Aspekte des Dargestellten zu erfassen. Es geht in den beiden Sätzen offenbar um zwei grundsätzliche Möglichkeiten des Verhaltens oder Bezugs zur Wirklichkeit, von denen die 'Sehweise' nur einen, hier besonders hervorgehobenen, Aspekt bildet. Trifft das zu, so können wir weiter folgern, dann müßten diese beiden Möglichkeiten auch für das Verhältnis des Interpreten zu seinem Text gelten. Dass dies tatsächlich der Fall ist, macht besonders Kobs in seiner Interpretation deutlich, wie im folgenden gezeigt werden soll. Auch die meisten anderen Deutungen bestätigen diesen Sachverhalt, insbesondere durch die Art, wie sie die beiden Teile charakterisieren und dabei den zweiten mehr oder weniger negativ beurteilen. Das soll nun zunächst erörtert und zugleich versucht werden, die Haltung des Galeriebesuchers in den beiden Sätzen sowie deren Zusammenhang mit der Haltung des Interpreten oder Lesers zu bestimmen.

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Der erste Teil bietet offenbar keine größeren Schwierigkeiten. Es handelt sich um einen hypothetischen Fall, um die Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit menschliches Handeln möglich ist.17) Dabei geht es nicht um konkrete Ereignisse und Personen, sondern um „irgendeine" Kunstreiterin und „einen jungen Galeriebesucher, der nur als Funktion des gedanklichen Entwurfs bedeutsam wird".18) Der Vorgang und seine Umstände werden klar analysiert und dargestellt. Der Satz ist übersichtlich und logisch aufgebaut und lässt das Eingreifen des Galeriebesuchers als notwendige Konsequenz erscheinen.19) Eindeutig ist der Gegensatz zwischen der „hinfällige(n), lungensüchtige(n) Kunstreiterin" und dem „erbarmungslosen Chef" beziehungsweise dem Publikum, dessen Hände „eigentlich Dampfhämmer sind". „Engagiertes Bewußtsein für Unterdrückung" macht diesen Entwurf „zu einer menschlichen Anklage, einem Modell für moralische Entrüstung, für soziales und politisches Aktionsbewußtsein".20)
Schwieriger scheint eine angemessene Charakterisierung des zweiten Teils. Auffällig ist hier zunächst die zumeist negative Bewertung, besonders durch die Interpreten, die diesen Teil als falschen Schein, Lüge, Täuschung oder ähnlich bestimmen.21) Auch in den Deutungen, die im zweiten Satz eine andere Sehweise dargestellt sehen, wird diese zumeist negativ gegenüber der ersten abgehoben. Philippi betont in bezug auf den Galeriebesucher, „wie sehr er von Gefühlen bestimmt wird", und weist auf sein „irrational bestimmtes Innere" hin.22) Beicken stellt dem „engagierten Wirklichkeitsverständnis und Aktionsbewußtsein" des ersten Teils die „Position des mitfühlenden, in die Innerlichkeit und den Irrationalismus ausweichenden Beobachters . . . (eine sich der Subjektivität begebende regressive Position)" gegenüber.23) Kobs spricht zwar auch vom „Zerbrechen des logischen Rahmens", von „Widersprüchen" und „Ambivalenz"24), aber er bewertet den zweiten Teil doch insgesamt positiver, worauf noch zurückzukommen sein wird.
Überraschend ist die überwiegend negative Bewertung zunächst deshalb, weil die Parallelität der beiden Sätze eher auf ihre Gleichwertigkeit hindeutet. Diese wird auch in der Erzählung Elf Söhne betont, in der der siebente Sohn nach Malcolm Pasleys Deutung das Stück Auf der Galerie darstellt.25) Es heißt dort: „Sowohl Unruhe bringt er, als auch Ehrfurcht vor der Überlieferung, und beides fügt er, wenigstens für mein Gefühl, zu einem unanfechtbaren Ganzen."26) Dieses „unanfechtbare Ganze" wird in den bisherigen Deutungen bestenfalls andeutungsweise sichtbar. Es setzt die Gleichwertigkeit beider Teile voraus, die hier deutlich ausgedrückt ist,27) wobei der zweite Teil als „Ehrfurcht vor der Überlieferung" eher noch positiver erscheint als die „Unruhe" des ersten.
Wie kommt es also zu der negativen Bewertung des zweiten Satzes, die, wie sich noch zeigen wird, auch vom Inhalt her nicht gerechtfertigt ist? Ein Grund dafür ist offenbar, dass die Haltung des Interpreten in vielem mit der Haltung des Galeriebesuchers im ersten Teil übereinstimmt. Wichtig sind in beiden Fällen kritischer Abstand, klare Analyse, deutliche Gegenüberstellungen, logische Zusammenhänge, hypothetische Erwägungen. Das allein genügt aber nicht zur Erklärung. Entscheidend ist vielmehr meines Erachtens die einseitige Betonung der genannten Elemente in den meisten Deutungen, die dazu führt, dass alles, was diesen Werten nicht entspricht, negativ erscheint, als emotional, irrational, ambivalent oder paradox. Es handelt sich hier offenbar um ein kulturspezifisches Phänomen, um eine (oft einseitige) Betonung bestimmter Werte im modernen westlichen Denken, etwa Rationalität, kritischer Abstand, klare Differenzierung und Gegenüberstellung, Leistung, Aktionsbewusstsein, Eigenverantwortung. Diese können wohl am besten mit dem Begriff des 'Männlichen' gekennzeichnet werden. Dem gegenüber stehen dann Werte, die man traditionell als 'weiblich' bezeichnet, etwa Gefühl, Rezeptivität, Bewahrung, Einfühlungsvermögen, Nähe zum Sein, Passivität. Manches an diesen Bestimmungen ist sicher problematisch, aber in unserem Zusammenhang genügt die Verdeutlichung des grundlegenden Unterschieds, der mit C. G. Jungs Theorie von animus und anima zusammenhängt.28) Danach handelt es sich hier um zwei grundsätzliche Möglichkeiten des Menschen, deren Integration erst eine harmonische menschliche Entwicklung ermöglicht, während eine einseitige Betonung nur des 'Männlichen' oder des 'Weiblichen' zu Verzerrungen und Deformationen führt. Letzteres gilt sicher auch für die Dominanz 'männlicher' Werte in den meisten westlichen Kulturen. Die entsprechenden Verzerrungen lassen sich erst deutlich erkennen durch den Vergleich mit anderen Kulturen, etwa der japanischen, in denen 'weibliche' Werte stärker betont werden. Das kann hier nicht im einzelnen erörtert werden, doch sollen im folgenden im Zusammenhang mit der Interpretation des Textes dazu wenigstens einige Hinweise gegeben werden.29)

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Die im ersten Teil von Auf der Galerie vorherrschenden 'männlichen' Werte und die ihnen entsprechende Haltung des Interpreten sind oben bereits dargestellt worden. Daß daneben aber noch eine andere Haltung notwendig ist und was das für die Interpretation bedeutet, hat Kobs eindrücklich hervorgehoben bei seiner Erörterung des „vielleicht" am Anfang der Apodosis, das für ihn nicht nur Ausdruck der Verzweiflung ist:

Gibt man sich allerdings dem zweimal ansteigenden Schwung der Protasis hin, läßt man sich tragen und mitreißen von dem Ansturm der Bilder, dann gewinnt dieses 'vielleicht' plötzlich einen anderen Sinn. In ihm, so spürt man, bricht sich wider alle Vernunft eine unbändige Hoffnung Bahn . . . Der Interpret kann dem Text nur dann gerecht werden, wenn er sich auf die Sehweise des reflektierenden Bewußtseins einläßt, seine Welt mit ihm erlebt und doch die kritische Distanz nicht aufgibt, um in unbefangener Analyse die Widersprüche dieser Welt aufzudecken.30)

Die hier betonten beiden Haltungen des Interpreten entsprechen deutlich den oben als 'männlich' beziehungsweise 'weiblich' charakterisierten. Zu den dabei sichtbar werdenden anderen Elementen im ersten Satz gehört neben dem Doppelsinn von „vielleicht" auch die Bemerkung, dass die Hände „eigentlich Dampfhämmer sind". Hier wird nach Kobs „der Vorstellende" von der Intensität der Bilder überwältigt, vergisst den hypothetischen Charakter seines Gegenstandes und versucht, „bis in die Eigentlichkeit der Gegenstände vorzudringen."31) Diese Haltung hat hier aber keine positive Funktion. Kobs betont die „Verwirrung, in die das reflektierende Bewußtsein an der Nahtstelle von Protasis und Apodosis gestürzt ist", so dass es nicht einmal mehr „Möglichkeit und Eigentlichkeit, Hoffnung und Verzweiflung" auseinanderhalten kann.32)
Ähnlich verzerrte ,weibliche' Elemente finden sich auch in dem geradezu sentimentalen Engagement für die ,arme' („hinfällige, lungensüchtige") Kunstreiterin und gegen den ,bösen' („peitschenschwingenden, erbarmungslosen") Chef, in dem unbestimmt-zerfließenden „in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft" und vor allem in der endlos-kreisförmigen Bewegung im ersten Satz beziehungsweise der Zirkelstruktur des Ganzen. Erstere widerspricht dem Logisch-Gradlinigen des reflektierenden Bewußtseins und ist ein Bild für seine Ausweglosigkeit, während sich für den Leser des Stückes, den das Weinen am Ende auf den Anfang zurückverweist, „die in einen paradoxen Zirkel umschlagende Argumentationskette als eine mit rationalen Mitteln schlechterdings unlösbare Frage erweist.33) Kobs betont allerdings später zu Recht,34) dass dieser „paradoxe Zirkel" sich nur ergibt (worauf die Begriffe „Argumentationskette" und „mit rationalen Mitteln" hinweisen), wenn man, wie es die meisten Interpreten tun, das Ganze in der Haltung des ersten Teils betrachtet. Das sich so ergebende Bild der Ausweglosigkeit gilt zugleich auch für die meisten dieser Deutungen selbst. Der Zirkel ist aber keineswegs das Ganze,35) vielmehr gehört zu ihm wesentlich auch die im zweiten Satz beschriebene Haltung.
Der zweite Teil des Stückes ist von Kobs überzeugend analysiert worden, so dass wir uns darauf beschränken können, die Wertung und Zuordnung der einzelnen Elemente zu diskutieren. Problematisch ist vor allem, daß Kobs nicht berücksichtigt, dass Wertungen wie „Kontrast", „Widerspruch", „Ambivalenz", „Zerbrechen des logischen Rahmens36) erst aus der kritischen Distanz des Lesers beziehungsweise Interpreten möglich sind, während sie für die Haltung des Galeriebesuchers im zweiten Satz offenbar gerade nicht gelten. Sonst wäre auch dessen Reaktion, das unbewusste Weinen am Ende, nicht verständlich. Zur Charakterisierung dieser Haltung hat Kobs wichtige Hinweise gegeben. Im Gegensatz zum ersten besteht der zweite Satz aus einer langen Reihe meist unverbundener Einzelbeobachtungen, deren Abhängigkeit innerhalb des Satzgefüges und gleichzeitige fortschreitende Isolierung in der Schwebe bleiben.37) Es ist eine „Sukzession momentan aufblitzender Details", die keinen ordnenden Überblick erlaubt,38) und selbst das zusammenfassende „da dies so ist" bezieht sich auf keinen konkreten Inhalt. „Dies, was sich in concreto beobachten lässt, ist eben so, wie es ist. Mehr kann man darüber nicht sagen."39) Ähnliches gilt auch für die Reaktion des Galeriebesuchers: „Das Weinen ist nicht Ausdruck für etwas, sondern in seiner Spontaneität und Unbezüglichkeit gleichsam reiner Ausdruck, der sich jeder sinnhaften Bestimmung entzieht";40) gerade so aber greift er „auf den Grund des nur Gedachten oder Beobachteten hinab".41) Von dieser Charakterisierung her ergibt sich also auch bei Kobs eine einheitliche Haltung des Galeriebesuchers im zweiten Abschnitt.
Die von Kobs festgestellte Ambivalenz und die Widersprüche entstehen erst dadurch, dass die kritische Analyse die Phänomene nicht in der Schwebe lässt, sondern versucht, sie eindeutig festzulegen. Hinzu kommen bei Kobs manche Übertreibungen, die an die Haltung im ersten Teil erinnern. Muss etwa der Direktor, wenn er nicht „fürsorglich" ist, gleich „erbarmungslos" sein, die Künstlerin, wenn nicht „glücklich", dann „gequält"?42) Müssen wir hier erst „Verhältnisse von Herrschaft und Knechtschaft" konstruieren, um diesen dann deren Umkehrung entgegenzustellen, oder erst eine Welt des schönen Scheins beschreiben, um sie dann als falsch zu entlarven ?43) Wenn man sich ganz in die Haltung des Galeriebesuchers einfühlt, die Phänomene mit seinen Augen sieht, dann verschwinden diese Gegensätze in der Wirklichkeit dessen, was einfach so ist, wie es ist, in seiner ganzen Vielschichtigkeit, die dem einfühlsamen Beobachter unmittelbar gegenwärtig ist.
Hier stoßen wir auch an eine Grenze der deutschen Sprache, die es uns schwer macht, solche Phänomene als eine Einheit zu erfassen, weil wir sie, abgesehen von inhaltlichen Bestimmungen, mit Begriffen wie „vielschichtig", „doppelsinnig" oder „mehrdeutig" immer wieder zergliedern44) Gerade das tut der Galeriebesucher aber offenbar nicht. Er nimmt die Phänomene als ganze in sich auf, spürt intuitiv ihre Vielschichtigkeit und ist so der Wirklichkeit ganz nahe, ja fast könnte man sagen, er ist am Ende eins mit den Dingen.45) Doch zugleich verliert er jedes Bewusstsein seiner selbst und damit die Möglichkeit zu verantwortlichem Handeln.
Worin besteht nun aber das „unanfechtbare Ganze", von dem Kafka spricht? Was dieses sein könnte, hat Kobs an anderer Stelle herausgestellt: „Die vollkommene Vermittlung wäre erst dann erreicht, wenn der Betrachter sich dem Gegenstand hingeben dürfte, ohne deshalb sich selbst in seinem bewussten Dasein aufzuheben, wenn also das Bewusstsein als Medium der Erkenntnis sich harmonisch mit einer fraglos-unreflektierten Seinsweise vereinigte."46) Während der Galeriebesucher in der jeweils einen Haltung gefangen bleibt, macht Kafka durch die Gegenüberstellung beider Haltungen die Möglichkeit, zumindest aber die Notwendigkeit, ihrer Integration für den Leser sichtbar und bezieht dabei auch dessen eigene Haltung mit ein. Das ist es meines Erachtens, was Kafka in Elf Söhne von einem „unanfechtbaren Ganzen" sprechen lässt, und warum er die Anlage dieses „Sohnes" als „so hoffnungsreich" bezeichnet und ihm als einzigem Kinder und Kindeskinder wünscht.47)
Anmerkungen
  1. Friedrich Nemec: Kafka-Kritik. Die Kunst der Ausweglosigkeit. München 1981,
S. 9 f; vgl. S. 65.
  1. A.a.O., S. 6.
  2. Gerhard Neumann: Die Arbeit im Alchimistengäßchen (1916-1917). In: Kafka-Handbuch. Bd. II. Hrsg. von H. Binder. Stuttgart 1979, S. 320 f. Vgl. die Kritik von Nemec, a.a.O., S. 65.
  3. Etwa Wilhelm Emrich: Franz Kafka. Frankfurt-Bonn 1958, S. 35 f; Brigitte Flach: Kafkas Erzählungen. Strukturanalyse und Interpretation. Bonn 1967, S. 135; Hermann Glaser: Franz Kafka „Auf der Galerie". In: Interpretationen moderner Prosa. Frankfurt-Berlin-Bonn 1955, S. 40-48; John Margetts: Satzsyntaktisches Spiel mit der Sprache. Zu Franz Kafkas „Auf der Galerie". In: Colloquia Germanica 4 (1970), S. 76-82; Günter Mast: Ein Beispiel moderner Erzählkunst in Mißdeutung und Erhellung. In: Neue Sammlung 2 (1962), S. 237-247; Heinz Politzer: Franz Kafka. Der Künstler. Frankfurt 1978, S. 156 f; Claus Reschke: The Problem of Reality in Kafka's „Auf der Galerie". In: Ger-manic Review 51 (1976), S. 41-51; Blake Lee Spahr: Kafka's „Auf der Galerie". A Stylistic Analysis. In: German Quarterly 33 (1960), S. 211-215; Uwe Stamer: Sprachstruktur und Wirklichkeit in Kafkas Erzählung ,Auf der Galerie'. In: Festschrift für K. H. Halbach. Hrsg. von R. B. Schäfer-Maulbetsch u.a.. Göppingen 1972, S. 427-452. Vgl. die Kritik von Peter U. Beicken: Franz Kafka. Eine kritische Einführung in die Forschung. Frankfurt 1974, S. 302 und Nemec, a.a.O., S. 47-54.
  4. Es dürfte wenig ergiebig sein, die oft nicht gerade sachgerechte Kritik Nemecs im einzelnen zu erörtern. Daher genüge hier der Hinweis darauf, dass er von Kobs (Jörgen Kobs: Kafka. Untersuchungen zu Bewußtsein und Sprache seiner Gestalten. Hrsg. von U. Brech. Bad Homburg 1970) offenbar nur die wenigen bei Beicken zitierten Zeilen gelesen hat, die er denn auch mit dessen Fehlern zitiert („Subjektsein": Nemec, a.a.O., S. 59; Beicken, a.a.O., S. 304 statt „Subjekt-Sein": Kobs, a.a.O., S. 93. „Jürgen Kobs": Nemec, ebd.; Beicken, a.a.O., S. 402 statt Jörgen Kobs).
  5. Beicken, a.a.O., S. 303. Beicken verweist auf A. Peter Foulkes: „Auf der Galerie": Some Remarks Concerning Kafka's Concept and Portrayal of Reality. In: Seminar 2 (1966), S. 34-42; Hartmut Binder: Motiv und Gestaltung bei Franz Kafka. Bonn 1966, S. 193; Helmut Richter, Franz Kafka. Werk und Entwurf. Berlin 1962, S. 136 f.; Emrich; Mast und Zimmermann.
  6. Binder, a.a.O. und: Kafka-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München 1975, S. 212; Nemec, a.a.O., S. 45-47; vgl. Reschke, a.a.O., S. 49-51.
  7. Herbert Kraft: Kafka. Wirklichkeit und Perspektive. Bebenhausen 1972. S. 49.
  1. Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen. Hrsg. von P. Raabe. Frankfurt 1970, S. 129 (danach auch alle folgenden Textzitate).
  2. Vgl. Beicken, a.a.O., S. 304.
  3. Ebd., S. 303.
  4. Klaus-Peter Philippi: „Das Schloß": Reflexion und Wirklichkeit. Untersuchungen zu Kafkas Roman „Das Schloß". Tübingen 1966, S. 52 f. Vgl. Naomi Ritter: Up in the Gallery: Kafka and Prevert. In: Modern Language Notes 96 (1981), S. 632; Ritter glaubt allerdings, als einzige bisher diesen Zusammenhang erkannt zu haben (ebd.).
  5. Philippi, a.a.O., S. 56.
  6. Kobs, a.a.O., S. 79-97. Ebenso, aber in der Einzelinterpretation wenig überzeugend: Dietrich Krusche: Kafka und Kafka-Deutung. München 1974, S. 27-29.
  7. A.a.O., S. 95 u.ö.
  8. A.a.O., S. 27-29.
  9. Vgl. ebd., S. 85; Beicken, a.a.O., S. 304; Nemec, a.a.O., S. 45.
  10. Kobs, a.a.O., S. 85. Vgl. Philippi, a.a.O., S. 53.
  11. Kobs, a.a.O., S. 85; Philippi, a.a.O., S. 53 f.
  12. Beicken, a.a.O., S. 304 f. Dieser Aspekt wird in Kobs Begriff „reine Reflexion" nicht miterfaßt (s.o.).
  1. S. die oben in Anm. 6 genannten Interpretationen.
  2. A.a.O., S. 56.
  3. A.a.O., S. 306.
  4. A.a.O., S. 92.
  5. Malcolm Pasley: Drei literarische Mystifikationen Kafkas. In: Kafka-Symposion. Berlin 1965, S. 21-26; ebenso Kobs, a.a.O., S. 80. Anders, aber im Hinblick auf Auf der Galerie nicht überzeugend: Breon Mitchell: Franz Kafka's „Elf Söhne". A New Look at the Puzzle. In: German Quarterly 47 (1974), S. 191-203; Binder: Kafka-Kommentar . .S. 223 f.
  6. Franz Kafka: Erzählungen. Frankfurt o.J. (1952), S. 175.
  7. Vgl. Kobs, a.a.O., S. 81.
  8. S. Gerhard Schepers: Masculine and Feminine Aspects of Creativity—with an analysis of Kafka's Up in the Gallery. In: Humanities 16 (1982), S. 105 f. Vgl. auch oben Kafkas Charakterisierung der beiden Teile als „Unruhe" und „Ehrfurcht vor der Tradition".
  9. Vgl. Schepers, a.a.O., S. 116-124; ferner ders.: Images of Amae in Kafka—with special reference to Metamorphosis. In: Humanities 15 (1980), S. 66-83; ders.: Zu Kafkas Erzählung „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse". In: Doitsu Bungaku 58 (1977), S. 79-88.
  1. A.a.O., S. 88.
  2. A.a.O., S. 87.
  3. A.a.O., S. 88.
  4. Ebd., S. 82.
  5. A.a.O., S. 95.
  6. Gegen Kobs, a.a.O., S. 81 f, 87.
  7. A.a.O., S. 92 u.ö.
  8. Ebd., S. 83 f.
  9. Ebd., S. 86.
  10. Ebd., S. 84. Vgl. die große Rolle, die das Annehmen der Wirklichkeit, so wie sie ist (sonomama), in der japanischen Kultur spielt.
  11. Ebd., S. 94.
  1. Ebd., S. 95.
  2. Ebd.; vgl. 90 f, 91 f.
  3. Ebd., S. 90; vgl. 89-92.
  4. Im Gegensatz dazu hat etwa das Japanische eine Fülle von Begriffen, die ein Phänomen in seiner ganzen Vielschichtigkeit unmittelbar ausdrücken.
  5. Vgl. ebd., S. 84 f, 95. Auch hierfür ließen sich viele japanische Beispiele anführen; vgl. etwa den Begriff mononoaware (das Sich-Einfühlen in die Dinge, das einen ganzen Komplex von Gefühlswerten umfasst, u.a. auch Mitleid und Trauer).
  6. A.a.O., S. 465.
  7. Erzählungen, S. 175f.
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