Shinrans Verbannung - Was aus meinen Träumen wurde

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Shinrans Verbannung nach Echigo als Wendepunkt in seiner religiösen Entwicklung
in: Zentrum und Peripherie in Japan, iudicium 1992, S. 163-174
Gerhard Schepers
1.  Einleitung
Wer den Hiei-zan in Kyōto mit seinen weitläufigen Tempelanlagen besucht hat, wird sich vielleicht auch an die Hinweise dort auf verschiedene, zum Teil sehr bekannte, Persönlichkeiten der japanischen Religionsgeschichte erinnern, die alle zumindest einige Zeit als Tendai-Mönche auf dem Hiei gewesen sind. Tatsächlich sind insbesondere die großen neuen Schulen der Kamakura-Zeit, die heute den japanischen Buddhismus prägen, alle von dort ausgegangen. Ihre Gründer, Eisai, Dōgen, Hōnen, Shinran und Nichiren, haben dort ihre grundlegende religiöse Ausbildung erfahren und bestimmte Elemente der Tendai-Tradition zum Ausgangspunkt für ihre Lehre genommen. Hier zeigt sich sehr deutlich die zentrale Bedeutung des Hiei-zan für die Religion am Ende der Heian- und zu Beginn der Kamakura-Zeit.
Andererseits haben die genannten fünf Schulgründer alle den Hiei verlassen, Dōgen schon nach zwei Jahren, Nichiren nach etwa zehn, Shinran nach zwanzig, Hōnen und Eisai erst nach etwa dreißig Jahren. Die beiden älteren, Hōnen und Eisai blieben zumeist in Kyōto. Beide hielten Verbindung zur Hofaristokratie, Eisai auch zu den Militärmachthabern in Kamakura.
Für Shinran, Nichiren und teilweise auch Dōgen dagegen wird ihr Leben an der Peripherie entscheidend. Sie repräsentieren darin, so wird man sagen können, den Geist einer neuen Zeit und neuer gesellschaftlicher Gruppierungen.1 Dōgen zieht sich nach seiner Rückkehr aus China und weiteren Jahren in Kyōto schließlich in den neugegründeten Eihei-ji im fernen Echizen, heute Fukui, zurück, wo er sich bewusst fast ganz von den Mächtigen fernhält. Shinran bleibt auch nach seinem Exil in Echigo, heute Niigata, noch mehr als zwanzig Jahre in der Kantō-Gegend, ehe er als alter Mann in seine Heimatstadt Kyōto zurückkehrt. Nichiren ist schon durch seine Herkunft als Sohn eines Fischers aus Chiba und die beiden
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ersten Lebensjahrzehnte dort sowie durch sein bewegtes Leben mit mehrfachem Exil ein Mann der Peripherie, dazu ein eifernder Prophet, der den Konflikt mit anderen politischen und gesellschaftlichen Kräften nicht scheut, sondern geradezu sucht.2
Natürlich gibt es ganz erhebliche Unterschiede zwischen Dōgen, Shinran und Nichiren, aber man wird doch sagen können, daß bei allen dreien eine Spannung sichtbar wird zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen dem kulturellen, gesellschaftlichen und weitgehend auch noch politischen Zentrum Kyōto sowie teilweise auch Kamakura einerseits und den ganz anderen, positiven und negativen, Gegebenheiten und Möglichkeiten an der Peripherie andererseits. Was das im Hinblick auf Shinrans religiöse Entwicklung bedeutet, möchte ich nun genauer untersuchen.

2.  Echigo als Wendepunkt in Shinrans Leben
Jōdo-shinshū, die auf Shinran zurückgehende Wahre Schule des Reinen Landes, auch Shin-Buddhismus genannt, kennt in ihrer Tradition verschiedene, teils sehr ausführliche Biographien Shinrans. Diese haben aber viele legendenhafte Züge und sind als historische Quellen praktisch wertlos. Mit dem Einsetzen der historisch-kritischen Shinran-Forschung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts begann nun, ähnlich wie in der europäischen Leben-Jesu-Forschung, die Suche nach dem historischen Shinran. Da es damals keine zeitgenössischen historischen Quellen zu Shinran außerhalb der Shinshū-Tradition gab, glaubte man teilweise, es gebe überhaupt keine Möglichkeit, historisch zuverlässige Aussagen über Shinran zu machen. Es wurde sogar bezweifelt, dass er wirklich gelebt habe. Das änderte sich in den zwanziger Jahren mit dem Nachweis von Originalmanuskripten Shinrans und besonders mit der Entdeckung von Briefen seiner Frau Eshinni, die verschiedene biographische Einzelheiten zu Shinran enthalten. Letztere sind neben Angaben und indirekten Hinweisen in Shinrans eigenen Werken die wichtigste Quelle zu seinem Leben. Hinzu kommt die relativ zuverlässige älteste Biographie, verfaßt von Shinrans Urenkel Kakunyo 32 Jahre nach seinem  Tod, die allerdings aus der Sicht der Shinshū-Lehre geschrieben ist.3
Shinrans Leben läßt sich in fünf Hauptperioden einteilen. Die erste beginnt 1181, als er mit acht Jahren Mönch auf dem Hiei-zan wird, und dauert bis 1201, als er auf seiner Suche nach einem Weg zur Erlösung enttäuscht den Hiei verläßt und sich Hōnen anschließt. Die zweite Periode
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endet bereits nach sechs Jahren 1207 mit der Verbannung Hōnens und mehrerer seiner Schüler einschließlich Shinrans, die unter dem Druck der etablierten buddhistischen Tempel erfolgte. Damit beginnt die dritte, für unseren Zusammenhang wichtigste Periode, die in Echigo, wo Shinran nach Aufhebung des Exils 1211 wohl noch einige Jahre länger blieb. Es folgt ein etwa zwei Jahrzehnte dauernder Aufenthalt Shinrans mit missionarischer Tätigkeit in Hitachi, heute Ibaraki, wahrscheinlich von 1214 bis etwa 1235, und schließlich der letzte Lebensabschnitt in Kyōto bis zu seinem Tode 1263.
Viel diskutiert ist die Frage nach dem entscheidenden Wendepunkt in Shinrans Leben. Traditionell setzen ihn die meisten Forscher 1201 an, das Jahr also, in dem er Hōnens Schüler wird. Zweifellos ist das der entscheidende Schritt Shinrans zum Amida-Glauben, zu der Überzeugung, dass Erlösung nur möglich ist aufgrund des Gelübdes von Amida Buddha, alle Menschen ins Reine Land und damit zur Erleuchtung zu führen. Allerdings ist damit noch nicht erklärt, woher all das kommt, was die historische Bedeutung Shinrans als radikaler religiöser Neuerer und als Begründer des Shin-Buddhismus ausmacht, nämlich vor allem seine Einsicht, dass nur der von Amida bewirkte Glaube allein den Eintritt ins Reine Land ermöglicht, und die teils radikalen Konsequenzen, die er daraus zieht. In den Jahren bis 1207 stand Shinran noch ganz unter dem Einfluss Hōnens. Zwar besaß er offenbar dessen besonderes Vertrauen (1205 durfte er eine Kopie von Hōnens Hauptwerk Senjakushū sowie von Hōnens Porträt machen), doch tritt er unter den zahlreichen Schülern Hōnens sonst nicht weiter hervor (vgl. Dobbins 25f).
Wie stark Shinran anfangs von Hōnen beeinflusst wurde, zeigen auch seine frühesten Werke, Aufzeichnungen zu zwei Sutren,4 die vor 1217, vielleicht schon vor 1207 in Kyōto, geschrieben wurden (TSSZ 7:(2)158f). Sie enthalten Textauszüge und Kommentare, die ausschließlich aus Zitaten aus anderen Werken bestehen, wobei Shinran, genau wie Hōnen, hauptsächlich Shan-tao (China, 613-681) als Quelle benutzt. Die Bedeutung des Glaubens wird allenfalls angedeutet, betont wird dagegen in den Zitaten, was auch die zentrale Botschaft Hōnens ausmacht, nämlich dass das nembutsu, das Aussprechen des Namens Amida Buddhas, der einzige Weg zur Erlösung ist (vgl. Dobbins 27f).
Das ändert sich wesentlich in Shinrans Hauptwerk, dem Kyōgyōshinshō, in dem nun seine grundlegend neue religiöse Erfahrung der Erlösung allein durch den von Amida geschenkten Glauben deutlich ausgesprochen
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ist. Davor muss also die entscheidende Wende in Shinrans Denken liegen, die ihn zu einer teils radikalen Neu- und Umformulierung der bisherigen Tradition führt. Leider ist die Entstehungszeit des Kyōgyōshinshō sehr umstritten.5 Sicher ist, dass Shinran gut zwei bis drei Jahrzehnte an diesem Werk gearbeitet hat und dass es um 1247 im wesentlichen abgeschlossen war. Es muss aber frühere Versionen gegeben haben. Das älteste erhaltene Manuskript ist wohl noch vor der Rückkehr nach Kyōto entstanden, vielleicht auch erheblich früher,6 so dass Shinran wohl schon seit Beginn seines Aufenthaltes in der Kantō-Gegend erste Entwürfe verfasst hat. Hinzu kommt, dass verschiedene Forscher der Meinung sind, mehrere kürzere Sammlungen von Texten mit Shinrans Kommentar seien bereits vor dem Kyōgyōshinshō entstanden und nicht erst später in Kyōto, wie traditionell angenommen wird (Maki 410f).
  Daraus ergibt sich, dass die entscheidende religiöse Erfahrung Shinrans auf jeden Fall während seiner Jahre an der Peripherie Japans erfolgte. Vieles weist darauf hin, dass sie bereits in die Zeit des Exils in Echigo fällt. Neben den Entstehungszeiten der Schriften spricht dafür die Überlegung, dass Shinrans Aufenthalt in Echigo einen entscheidenden Einschnitt bedeutete, wie kein anderes Ereignis seines späteren Lebens. Er wurde gezwungen, nicht nur seine vertraute Umgebung zu verlassen, sondern auch seinen Lehrer Hōnen, der ihm so viel bedeutete. Fern vom kulturellen Zentrum mußte er auf viele geistige Anregungen, auf Kontakte mit Gleichgesinnten und vertiefende religiöse Studien verzichten. Zur Verbitterung über das ihm von seinen etablierten Glaubensbrüdern angetane Unrecht kam die Notwendigkeit, erstmals und dazu unter schwierigen Bedingungen den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu verdienen.
Zwar hatte ein Mann aus dem Zentrum mit Shinrans sozialem Hintergrund an der Peripherie wohl gewisse Privilegien (Matsuno 153f),7 auch verfügte die Familie seiner Frau in Echigo vielleicht über einiges Vermögen (Matsuno 159-162), aber insgesamt waren die Bestimmungen für Verbannte und die Lebensbedingungen in Echigo damals doch wohl sehr hart (Matsuno 151f, 162f). Ganz neu waren für Shinran auch die Erfahrungen von Ehe und Familie8 sowie das Leben unter einfachen Leuten in der Provinz, die oft unter den menschenunwürdigsten Bedingungen leben mussten und wegen ihrer körperlichen Arbeit, die Shinran jetzt teilte, von den Gebildeten verachtet wurden (Takahatake 92f). Wie sehr all dies auf seine religiöse Entwicklung gewirkt hat, soll im folgenden noch genauer untersucht werden.
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Zunächst möchte ich aber noch einen Brief seiner Frau Eshinni erwähnen, der sich auf eine wichtige religiöse Erfahrung bezieht. Es wird dort (TSSZ 3:194-197) von Shinran berichtet, er habe 1231 während einer Krankheit ununterbrochen ein Sutra rezitiert, bis ihm, auch in Erinnerung an eine siebzehn oder achtzehn Jahre zurückliegende frühere Erfahrung, klar geworden sei, dass auch dies noch ein Versuch war, durch eigene Kraft (jiriki), etwas zu bewirken, während doch nichts anderes nötig sei als der Glaube. So habe er die Rezitation schließlich abgebrochen. Dieses Erlebnis markiert offenbar den Endpunkt einer Entwicklung, im Verlauf derer Shinran immer tiefer erkannte, wie sehr der Mensch wieder und wieder versucht, sich sein Heil durch eigene Anstrengung zu sichern. So lehnt er nun konsequent alle Formen religiöser Praxis ab, die nicht auf der Anderen Kraft (tariki), beruhen, also nicht unmittelbarer Ausdruck des von Amida geschenkten Glaubens sind. Seit wann sich diese Erkenntnis bei Shinran durchgesetzt hat, lässt sich nicht genau bestimmen. Jedenfalls nehmen die meisten Forscher an, meines Erachtens mit Recht, dass das erheblich früher liegt als das in Eshinnis Brief geschilderte Erlebnis.9
Interessant ist auch, dass Shinran sich seit der Exilzeit meist Gutoku Shinran nennt. Sein früherer Name, Zenshin, bezieht sich auf Shan-tao, japanisch Zendō, auf den, wie oben erwähnt, Hōnen sich vor allem berief und der auch die Hauptquelle für Shinrans früheste Werke bildet. Shan-tao betont besonders das Rezitieren des nembutsu als wichtig für die Erlösung. Der Name Shinran dagegen besteht aus den zweiten Silben der japanischen Namen für Vasubandhu (Indien, 4./5. Jh.) und T'an-luan (China, 488-554 [476-542]), Seshin und Donran. Besonders wichtig ist hier der Bezug auf T'an-luan, auf den sich Shinran im Kyōgyōshinshō zur Begründung seiner neuen Einsichten im Gegensatz zu Hōnen beruft (vgl. Yasutomi 1990:48). T'an-luan betont die Erlösung durch tariki und den Glauben sowie die Möglichkeit der Erlösung für jeden, auch den Verworfensten. Die zentrale Bedeutung dieser Gedanken dürfte Shinran durch seine Erfahrungen in Echigo deutlich geworden sein (vgl. Yasutomi 1990:49f). Noch interessanter ist der Begriff gutoku, mit dem Shinran auf seinen neuen Status seit dem Exil hinweist, worauf weiter unten noch eingegangen werden soll. Diese Selbstbezeichnungen, die Shinran bis an sein Lebensende beibehielt (vorher hatte er bereits dreimal den Namen gewechselt), deuten also ebenfalls an, daß mit dem Exil die entscheidende Wende in Shinrans Leben begann.
Nach dem bisher Gesagten dürfte es berechtigt sein, mit vielen For-
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schern davon auszugehen, dass Shinrans teils radikale Um- und Neugestaltung der buddhistischen Tradition im wesentlichen auf seine Erfahrungen in Echigo zurückgeht.10 Was sich aus diesen Erfahrungen ergeben hat, das soll nun abschließend noch in bezug auf einige wichtige Aspekte seines Denkens und seiner religiösen Erfahrung untersucht werden.
3.  Shinran als radikaler religiöser Neuerer
Wie schon angedeutet, steht im Zentrum von Shinrans religiöser Erfahrung die Überzeugung, dass keinerlei eigene Anstrengung des Menschen zum Heil führen kann, sondern nur der von Amida durch Zuwendung seiner Verdienste (ekō) geschenkte Glaube. Die, zumindest subjektiv erfahrene, Unmöglichkeit, auf den in der buddhistischen Tradition angebotenen Wegen zum Ziel der Erleuchtung zu gelangen, hatte ihn zu Hōnen geführt. Nun, in Echigo, ganz auf sich allein gestellt, weitgehend abgeschnitten von den religiösen Traditionen und von der Beeinflussung durch Gleichgesinnte, aus den Erfahrungen des täglichen Lebens heraus und mit genügend Zeit zur Selbstbeobachtung und -reflexion, jetzt erst wurde Shinran offenbar das ganze Ausmaß der menschlichen Unzulänglichkeit bewusst. Verbunden damit war eine vertiefte Erfahrung des Glaubens an Amida, die Erkenntnis, dass der Mensch seiner Erlösung um so gewisser sein kann, je mehr er um seine eigene Unzulänglichkeit weiß, je tiefer er versteht, daß selbst sein Glaube nicht auf seiner eigenen Kraft beruht. Schon Shan-tao hatte dies in einem von Shinran im Kyōgyōshinshō zitierten Text als die beiden Aspekte des einen tiefen Herzens (jinshin) bezeichnet, das das Wesen des Glaubens ausmacht (s. Inagaki 91).
Dem entspricht Shinrans Selbstbezeichnung als gutoku. Die erste Silbe bedeutet dumm, unwissend; das folgende toku heißt eigentlich kahlköpfig und wurde damals anscheinend zur Bezeichnung eines Priesters gebraucht, der sich nicht an die für buddhistische Priester geltenden Regeln hielt.11 Wie im Christentum gehören hier also tiefere Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit und vertiefte Glaubenserfahrung zusammen und bedingen sich gegenseitig. Allerdings kann man bei Shinran nicht, wie viele Forscher es tun, von Sündenbewusstsein sprechen. Die von ihm verwendeten Begriffe bedeuten Vergehen, Verbrechen, allenfalls Übel oder Böses.12 Hinzu kommt die Betonung des karma, der unausweichlichen Verstrickung in das Gesetz von Ursache und Wirkung auch im Bereich des moralischen Übels (vgl. Takahatake 100-104), die sich vom persönlichen Sündenbewusstsein im Christentum unterscheidet. Bei Shinran, wie auch sonst im Buddhismus, umfasst die menschliche Unzulänglichkeit überdies noch mehr, nämlich auch blinde Leidenschaften und Unwissenheit, weshalb ja auch das Heil als Erleuchtung bezeichnet wird.
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Dass Shinran sich so offen zu seinem gefallenen Zustand bekennt, zeigt, wie sehr er offenbar sich selbst in all seiner Unzulänglichkeit angenommen hat, weil er sich von Amida bedingungslos angenommen weiß.
Das hat nun eine Reihe von teils radikalen Konsequenzen. Erlösung ist bei Shinran eine persönliche Glaubenserfahrung, eine unmittelbare Beziehung zwischen Amida und dem einzelnen, dem Amida seine Verdienste zuwendet (vgl. Matsuno 173-177). So kann Shinran sagen, wie es im Tannishō heißt, dass Amidas Gelübde nur für ihn, Shinran, allein sei (Fujiwara 79), eine ganz erstaunliche Aussage innerhalb der japanischen Geistesgeschichte (vgl. Yasutomi 1986:71f). Mit dieser inneren Erfahrung zusammenhängen dürfte auch das wachsende Selbstbewusstsein, mit dem Shinran seine neugewonnenen Einsichten vertritt und lebt. Dabei handelt es sich natürlich nicht um Stolz auf die eigene Kraft, sondern um das Vertrauen auf das Wirken der Anderen Kraft (tariki) in ihm.
Das zeigt sich auch in einem anderen bekannten Wort Shinrans im Tannishō, nämlich: Ich, Shinran, habe nicht einmal einen einzigen Schüler. (Fujiwara 28) Diese Ablehnung des traditionell so wichtigen Lehrer-Schüler Verhältnisses rüttelt an den Grundlagen nicht nur der religiösen Organizationen in Japan, sondern auch an denen des gesellschaftlichen Systems überhaupt, insbesondere wenn man noch Shinrans Relativierung des Kind-Eltern-Verhältnisses (ibid. 26) hinzunimmt. So hat sie sich denn auch, ist man geneigt hinzuzufügen, selbst im Shin-Buddhismus von Anfang an nicht durchsetzen können.
Shinran begründet die Tatsache, dass er keinen Schüler hat, damit, dass er durch eigene Kraft niemand zum Glaube führen könne, weil Glaube immer das Wirken Amida Buddhas sei (ibid. 28). Vor Amidas Ur-Gelübde (hongan) sind alle gleich, ob jung oder alt, gut oder böse, wie es an anderer Stelle im Tannishō heißt (ibid. 16).13 Shinran dreht sogar die traditionellen Wertvorstellungen um, wenn er sagt (um nun auch das bekannteste Wort aus dem Tannishō noch zu zitieren): Sogar ein guter Mensch wird im Reinen Land geboren, um wieviel mehr ein schlechter! (ibid. 22) Sätze wie diese bedeuteten nicht nur eine Herausforderung an die etablierten buddhistischen Schulen, sondern konnten auch als Infragestellung der traditionellen Wertvorstellungen einer streng hierarchisch gegliederten
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Gesellschaft verstanden werden. Dies könnte auch der Grund sein, warum das Tannishō in den ersten Jahrhunderten nach Shinrans Tod anscheinend nur wenigen Gläubigen zugänglich gemacht wurde (cf. Dobbins 69f).
Shinrans Denken stellt in seiner Konsequenz das Heilsmonopol der etablierten religiösen Gruppen radikal in Frage, nämlich ihren Anspruch, Lehren, Übungen und Rituale zu besitzen, die allein den Menschen zum Heil führen können.14 Im Gegensatz dazu ist Shinrans Weg zum Heil jedem zugänglich. Er braucht dazu nicht Mönch zu werden oder sein Leben zu ändern, nicht einmal ein Lehrer-Schüler-Verhältnis ist dazu nötig. Das war Shinrans grundlegende Erfahrung in Echigo, wo er ganz auf sich allein gestellt, als Laie lebend und gerade aus der tiefsten Erfahrung seiner Unzulänglichkeit heraus zu einem vertieften Glauben kam.
Das Beglückende dieser Glaubenserfahrung und die Dankbarkeit gegenüber Amida waren dann, wie wir ebenfalls aus dem oben erwähnten Brief Eshinnis erfahren,15 offenbar das Motiv für den Beginn von Shinrans Missionstätigkeit, die er wohl erst in Hitachi begann. Sie entstand aus dem Wunsch, möglichst vielen Menschen eine ähnliche Glaubenserfahrung zu ermöglichen. Dabei wandte er sich vor allem wohl an Bauern und andere aus den unteren Schichten, deren Leben er in Echigo geteilt hatte. Dass er auch die Unterscheidung zwischen Priester und Laie verwirft, demonstriert er selbst, indem er als einer lebt, der weder Priester noch Laie (sō ni arazu zoku ni arazu)16 ist. Die erzwungene Laisierung während seines Exils wird der Anlass zu einer neuen Lebensform, wo er einerseits wie ein Laie sich nicht an die Mönchsregeln hält und eine Familie hat, andererseits aber als Jünger Buddhas sich ganz dem Studium und der Verbreitung der buddhistischen Lehre widmet. Wichtiger als dieser äußere Aspekt ist aber die innere Erfahrung, die sich in der obigen Formel ausdrückt, nämlich ein neues Selbst-Bewusstsein des einzelnen, der ganz in und aus der Kraft Amidas lebt. Nur diese Beziehung ist entscheidend, und so verlieren Unterscheidungen wie die zwischen Priester und Laie ihre Gültigkeit.
Manche Forscher versuchen, sozialkritische Elemente in Shinrans Denken und Praxis herauszustellen. Den Anstoß zu dieser Diskussion, die bis heute andauert, gaben vor allem die Arbeiten von Ienaga Saburo und Hattori Shisō.17 Wegen der spärlichen Belege ist es dabei allerdings in vielen Fällen schwer, über bloße Vermutungen hinauszugelangen, so dass der eigene ideologische Standpunkt oft stark mit ins Spiel kommt. Immerhin ist es erstaunlich, in welchem Maße ein religiöser Denker der Kama-
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kura-Zeit die gesellschaftskritische Diskussion der Nachkriegszeit in Japan anregen konnte, wobei die sich aus Shinrans Denken ergebenden Konsequenzen auch heute noch für viele Japaner offenbar nicht nachvollziehbar sind.
Sicher belegbar bei Shinran ist seine sehr kritische Haltung gegenüber den religiösen und weltlichen Autoritäten in Kyōto anlässlich seiner Verbannung, eine Haltung, die auch lange nach dem Exil in Echigo noch anhielt. Die entsprechende Stelle findet sich im Epilog des Kyōgyōshinshō. Shinran kritisiert dort die Priester der großen Tempel und die konfuzianischen Gelehrten in der Hauptstadt, die in ihrer Blindheit Wahres und Falsches nicht unterscheiden könnten, und fährt dann fort: Der Kaiser und seine Gefolgsleute wandten sich gegen das Gesetz (Dharma) und Recht, ließen sich von Zorn leiten und von Groll bestimmen. (TSSZ 380) Besonders die Kritik am Kaiser erscheint selbst über 700 Jahre später offenbar noch so unerhört, daß 1940 auf dem Höhepunkt des Nationalismus auf Anordnung des Nishi-Honganji der gesamte obige Satz nicht mehr zitiert oder gedruckt werden durfte (s. Rogers 15f) und eine englische Ausgabe noch 1983 die Zusammenhänge verschleiert, indem sie statt von Kaiser einfach von lords spricht (Inagaki 206).18
Dass es den großen Tempeln in Kyōto und Nara bei ihrer Unterdrückung Hōnens und seiner Schüler nicht nur um religiöse Vorbehalte ging, sondern vor allem auch um ihre Stellung innerhalb der gesellschaftlich-politischen Ordnung, zeigt sich deutlich in mehreren Punkten der Anklage gegen Hōnen, die der Kōfukuji 1205 beim Kaiser einreichte (s. Kōfukuji-sōjō). Drei der neun Anklagepunkte beziehen sich darauf, wobei diese noch dadurch besonders hervorgehoben sind, daß sie am Anfang, in der Mitte und am Ende stehen. James C. Dobbins fasst sie folgendermaßen zusammen:

1. Establishing a new school without imperial recognition and without proper lineage.
.....
5. Refusing to revere the illustrious kami, the native deities of the Shinto tradition.
.....
9. Throwing the country into disorder by undermining the teachings of the eight schools which uphold it.19

Der erste und letzte Punkt zeigen die enge Verflechtung und gegenseitige Unterstützung von religiöser und weltlicher Macht (vgl. Fugen
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67ff), während beim mittleren Anklagepunkt deutlich wird, dass es nicht so sehr um die Reinhaltung der buddhistischen Lehre geht, sondern vielmehr darum, die etablierten Religionen insgesamt vor religiösen Neuerungen und ihren gesellschaftlichen Konsequenzen zu schützen. Der Versuch, dies durch Unterdrückungsmaßnahmen zu erreichen, schlug aber im Falle Shinrans fehl. Dadurch, dass man ihn an die Peripherie des Landes verbannte, ermöglichte man ihm gerade, wie wir gesehen haben, grundlegende Einsichten, die das traditionelle religiöse und zumindest indirekt auch das gesellschaftliche System viel radikaler in Frage stellten, als das bei Hōnen der Fall war.

Anmerkungen
1 Vgl. Anesaki 186f u. 204
2 Vgl. Anesaki 191 u. 204
3 Zu den hier genannten Problemen vgl. etwa Dobbins 21f u. Kojima 1981:13f
4 Kanmuryōjukyō-shūchū u. Amidakyō-shūchū, in: TSSZ (=Teihon Shinran Shōnin zenshū; s. das Literatur-verzeichnis.) Bd. 7
5 S. dazu Maki 409ff sowie Dobbins 32 und die dort angegebene Literatur
6 Das sogenannte Bandō-Manuskript (vgl. TSSZ 1:387ff, Furuta 594-632, Inagaki 3-5 u. Dobbins 32)
7 Aufgrund ähnlicher Überlegungen sieht Takahatake Shinran als both a victim and a beneficiary of the aristocracy and its social system (92).
8 Wann Shinran geheiratet hat (und ob eventuell mehrmals), ist umstritten. Spätestens müsste das bald nach seiner Ankunft in Echigo gewesen sein, vielleicht aber auch schon einige Jahre vorher (vgl. etwa Matsuno 159-162, Takahatake 94f, Dobbins 27).
9 Vgl. etwa Miyaji 40-43, Kojima 1982:5f. S. den Überblick dazu bei Furuta 88ff. Die meisten Forscher setzen Shinrans Wende (tennyū) zum achtzehnten Gelübde des Muryōjukyō (Sukhāvatî-vyūha-sūtra), d.h. zum Glauben an die Erlösung nur durch tariki, (zu diesem Problem s. Dobbins 28-30) in die Zeit um 1201 an, einige aber auch erheblich später. Furuta kommt nach sorgfältigen Untersuchungen zu dem Schluß, dass sie in der Zeit unmittelbar nach dem Aufenthalt in Echigo erfolgt sein müsse (Furuta 124), was auch meine eigene Auffassung stützt.
10 Vgl. etwa Bloom 17, Katō 96, Takahatake 90 und 95-100, Yasutomi 1990:52, auch Furuta 124
11 Die genaue Bedeutung der beiden Begriffe und der Sinn, in dem Shinran sie gebraucht, ist viel diskutiert und teils umstritten. Vgl. etwa Inagaki 25, Takahatake 89f, Katō 88-92, Dobbins 26f, auch Furuta 167-172, Gorai 42.
12 Ausführlicher dazu: Schepers 4-6
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13 Takahatake sieht diese Erkenntnis in engem Zusammenhang mit Shinrans Erfahrungen in Echigo (98-100).
14 Vgl. Langer-Kaneko 15f
15 Selbst zu glauben und andere zum Glauben zu führen (jishin kyōninshin), heißt es dort, ist Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber dem Buddha (TSSZ 3:195). Vgl. Futaba 339ff u. Dobbins 30.
16 So bezeichnet Shinran sich seit dem Exil. Zum Folgenden vgl. Katō 95f.
17 U.a. in den unten im Literaturverzeichnis aufgeführten Werken. Vgl. dazu etwa Bloom 26ff und 56ff, Miyaji 245-290, Furuta 172ff, Kashiwabara, Yasutomi 1980:271-273
18 Auch bei Takahatake findet sich diese Übersetzung noch (78).
19 Dobbins 14f. Teils irreführend ist die Zusammenfassung bei Takahatake 76f; so lautet die von Punkt 5: Pure Land followers did not pay proper respect to the Buddhist teachings and practices of the other Japanese schools. (77) Zum Inhalt vgl. Futaba 74-76.

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