Josefine - Was aus meinen Träumen wurde

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Zu Kafkas Erzählung „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“
Doitsu Bungaku 58, 1977, 79-88
Gerhard Schepers
„Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“ ist das letzte Werk, das Kafka abgeschlossen hat,1) „der "Schwanengesang seiner Kunst und seines Lebens.“2) Den Titel schrieb Kafka, als er schon nicht mehr sprechen konnte, auf einen Gesprächszettel an Max Brod: „Die Geschichte bekommt einen neuen Titel. Josefine, die Sängerin - oder - Das Volk der Mäuse. Solche Oder-Titel sind zwar nicht sehr hübsch, aber hier hat es vielleicht einen besonderen Sinn. Es hat etwas von einer Waage.“3) Damit will Kafka offenbar andeuten, dass es ihm in dieser Erzählung um das Verhältnis des einzelnen, des Künstlers zur Gesellschaft geht, wobei er beiden Seiten gerecht werden will; beide sollen im Gleichgewicht stehen.
Diese Ausgewogenheit zwischen einzelnem und Gesellschaft ist ein neuer Zug in Kafkas Spätwerk. Wegen der Neuheit dieses Ansatzes mag er die Geschichte unter Tieren angesiedelt haben, um so eine größere Distanz zur Wirklichkeit zu gewinnen.4) Allerdings wird von „Mäusen“ nur im Titel gesprochen, ansonsten könnte es sich, abgesehen von einigen Einzelheiten, ebensogut um Menschen handeln.5) H. Politzer sagt dazu:

Aber auch der neue Titel vermag die Tatsache nicht zu verbergen, dass die Fabel noch einmal an eines der persönlichsten Probleme ihres Autors rührt. Kafkas Verhalten zur Gesellschaft war gewiss eine Frage, die ihn von Grund auf erregte. Da er auch auf diese Frage
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keine Antwort fand, zögerte er, je älter er wurde, desto länger, den ganzen Komplex anzurühren ... Als es Kafka im Schatten seines Todes gelungen war, die Problematik des Außenseiters zu der des Künstlers zu reduzieren, näherte er sich dem alten Trauma noch einmal und ließ es zu Wort kommen.6)

Da in dieser Erzählung also das Verhältnis des einzelnen zur Gemeinschaft vornehmlich als das des Künstlers zur Gesellschaft beschrieben wird, konzentrieren sich die meisten Interpretationen auf diese letztere Frage.7) Dabei wird aber meistens übersehen, dass auch das allgemeine Problem des Verhältnisses von einzelnem und Gesellschaft mit hineinspielt und das besondere Verhältnis des Künstlers zu ihr entscheidend mitbestimmt, wie im folgenden gezeigt werden soll.
Die wohl wichtigsten Aussagen zu unserem Problem finden sich in einem Abschnitt, der das Verhältnis Josefines zu ihrem Volk als das eines Kindes zu seinem Vater beschreibt:

So sorgt also das Volk für Josefine in der Art eines Vaters, der sich eines Kindes annimmt, das sein Händchen - man weiß nicht recht, ob bittend oder fordernd - nach ihm ausstreckt. Man sollte meinen, unser Volk tauge nicht zur Erfüllung solcher väterlicher Pflichten, aber in Wirklichkeit versieht es sie, wenigstens in diesem Falle, musterhaft; kein Einzelner könnte es, was in dieser Hinsicht das Volk als Ganzes zu tun imstande ist. Freilich, der Kraftunterschied zwischen dem Volk und dem Einzelnen ist so ungeheuer, es genügt, dass es den Schützling in die Wärme seiner Nähe zieht, und er ist beschützt genug. Zu Josefine wagt man allerdings von solchen Dingen nicht zu reden. ‘Ich pfeife auf eueren Schutz’, sagt sie dann. ‘Ja, ja, du pfeifst’, denken wir. Und außerdem ist es wahrhaftig keine Widerlegung, wenn sie rebelliert, vielmehr ist das durchaus Kindesart und Kindesdankbarkeit, und Art des Vaters ist es, sich nicht daran zu kehren. (276)8)

Zunächst fällt auf, wie positiv Kafka hier, im Gegensatz zu anderen Werken, das Bild der Gesellschaft zeichnet. Wie ein „Vater“ „sorgt“ das Volk für den einzelnen, nimmt sich seiner an wie eines Kindes, erfüllt seine
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väterlichen Pflichten“ „musterhaft“, „beschützt“ ihn und gewährt ihm „die Wärme seiner Nähe“. Hier zeigt sich die oben erwähnte neue Tendenz in Kafkas Spätwerk, der Gesellschaft eine positivere Rolle zuzugestehen. Doch fehlt es andererseits auch nicht an kritischen Tönen. In den Worten „sorgen für“ und „annehmen“ schwingt bereits etwas mit von der Überlegenheit des Volkes, das sich des hilflosen Kindes Josefine erbarmt. Wenn von „musterhaftem“ Versehen der „Pflichten“ gesprochen wird, so spürt man darin nichts von der später erwähnten menschlichen „Wärme“, und außerdem scheint es sich um eine Ausnahme zu handeln, wie der Anfang des Satzes und das „wenigstens in diesem Falle“ andeuten. Der nächste Satz weist darauf hin, wie sehr „das Volk als Ganzes“ dem einzelnen überlegen ist, ein Tatbestand, der dann anschließend sogar als „ungeheurer Kraftunterschied“ gekennzeichnet wird. Im Wort „ungeheuer“ sind die Untertöne von Angst und hilflosem Ausgeliefertsein nicht zu überhören, während aus „Kraftunterschied“ (im Vergleich etwa zu ‘Machtunterschied’) etwas wie urtümliche, rohe Vitalität und Stärke herauszuhören ist. Dabei dürften, wie auch sonst in diesem Abschnitt, Kafkas Erfahrungen mit seinem eigenen Vater mitschwingen. Wenn dann im folgenden9) distanzierend von „Schützling“ gesprochen wird, so steckt in diesem Wort etwas von dem amtlichen, keine Widerrede duldenden Ton, der jemand als ,zu schützend’ qualifiziert (vgl. ,Impfling' ,Prüfling’ ,Zögling’ usw.). Dem entspricht auch, dass das Volk den einzelnen in seine „Nähe“ (was immer noch eine gewisse Distanz beinhaltet) „zieht“; und wenn dann mit einem doppelten „es genügt“ und „genug“ betont wird, dass der „Schützling“ „beschützt“ (eine ähnliche Wiederholung) sei, dann klingt das wie eine amtliche Feststellung, die keinen Widerspruch und keine weiteren Zugeständnisse erlaubt. Die kritischen Untertöne in diesem Abschnitt sind also nicht zu überhören, und besonders in der Nähe des so sehr positiv erscheinenden Wortes „Wärme“ häufen sie sich, aber dennoch wird damit anscheinend das Positive, die Möglichkeit von menschlicher Wärme und von Angenommensein nicht aufgehoben.
Wie ist demgegenüber Josefine gezeichnet? Ihre Haltung erscheint sehr widerspruchsvoll. Einerseits ist sie wie ein Kind, das „bittend“ „sein Händchen“ ausstreckt, hilflos gegenüber der „ungeheuren Kraft“ des Volkes. Andererseits erscheint schon das Ausstrecken des „Händchens“ zweideutig,
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„man weiß nicht recht, ob bittend oder fordernd“. Wenn man es wagt, sie auf den Schutz anzusprechen, den das Volk ihr gewährt, dann entgegnet sie: „Ich pfeife auf eueren Schutz.“ Bezeichnenderweise nennt sie das, was sie zurückweist, nicht etwa „Wärme“ oder gar Liebe, sondern „Schutz,“ ein Wort, das deutlich die Überlegenheit des Volkes kennzeichnet. Demgegenüber drückt das „Ich pfeife auf . . .“ eine fast hochmütige Ablehnung aus, doch wenn wir bedenken, dass das Pfeifen ja Josefines Art zu singen ist, dann könnte man beinahe so etwas wie ein verstecktes: „Ich singe (ein Loblied) auf eueren Schutz“ heraushören. Jedenfalls denkt das Volk unbeeindruckt: „Ja, ja, du pfeifst“, und der Erzähler, obwohl er Josefines Handlungsweise als „Rebellieren“ kennzeichnet, sagt, dass dies „Kindesart“ und sogar „Kindesdankbarkeit“ sei, so dass man nach Art eines Vaters mit Gleichmut darüber hinwegsehen könne.
Was ist nun der Sinn dieses Abschnitts? Was bedeutet auf der Seite des Volkes das Neben- und Ineinander von menschlicher Wärme und zumindest angedeuteter kalter Strenge und deutlich sichtbarer ungeheurer Macht, was auf seiten Josefines das Bitten und die offensichtliche Hilflosigkeit zugleich mit fordernd trotziger Rebellion, die seltsamerweise als „Kindesdankbarkeit“ bezeichnet wird?
Mir scheint, dass die Phänomene, die hier beschrieben werden, ziemlich genau dem entsprechen, was im Japanischen mit dem Wort amae(ru)10) und verschiedenen damit zusammenhängenden Begriffen bezeichnet wird. Da dieser Vergleich sehr erhellend ist für unseren Zusammenhang, möchte ich kurz darauf eingehen. Amae kennzeichnet nach T. Doi ursprüglich die Gefühle jedes normalen Säuglings an der Brust der Mutter: das Gefühl der Abhängigkeit, den Wunsch, ganz von der mütterlichen Liebe und Wärme umgeben zu sein, und die Abneigung und Furcht, von der Mutter getrennt und mit der rauhen Wirklichkeit konfrontiert zu werden.11) Ähnliche Gefühle bestimmen nun aber teilweise auch noch den Erwachsenen, und zwar in Japan offenbar weit mehr als im Westen.12) So scheint in Japan die Tendenz zu bestehen, die Eltern-Kind-Beziehung als Ideal und Maßstab für
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alle menschlichen Beziehungen anzusehen.13) Daher sucht man nach Beziehungen, die zwar einerseits ein hohes Maß von Abhängigkeit beinhalten, andererseits aber menschliche Wärme geben und es erlauben, im Vertrauen auf das Wohlwollen des anderen, sich gehenzulassen, seinen eigenen Launen zu folgen, ja eigensinnig und selbstsüchtig zu handeln.14)
Besonders interessant für unseren Zusammenhang ist nun, dass die japanische Sprache ein Vokabular entwickelt hat, das diese Phänomene bis hin zu den feinsten psychologischen Unterschieden erfasst. Für viele dieser Begriffe finden sich im Deutschen keine Entsprechungen. So kann amaeru je nach dem Zusammenhang bedeuten: schmeicheln, sich schmiegen, kokettieren, sich das Wohlwollen eines anderen zunutze machen, sich gehenlassen, eigensinnig, launisch, selbstsüchtig sein, sich (allzu optimistisch) verlassen auf und so weiter, wobei aber meist mehrere Bedeutungen ineinanderspielen. Grundlegend ist ein (kindliches) Gefühl der Abhängigkeit und das Vertrauen auf das Wohlwollen des anderen. Im folgenden soll nun untersucht werden, ob und inwieweit der Vergleich mit den Phänomenen der Amae zum Verständnis unseres Textes beitragen kann, wobei besonders die sprachlich-begrifflichen Parallelen erörtert werden sollen.
Eine deutliche Entsprechung zeigt sich in dem bisher analysierten Abschnitt, wenn dort bezeichnenderweise von einer Kind-Vater-Beziehung gesprochen und die völlige Abhängigkeit Josefines vom Wohlwollen des Volkes hervorgehoben wird. Praktisch alle Einzelzüge von Josefines Verhalten lassen sich meines Erachtens unter dem Begriff amaeru zusammenfassen. Das bittend-fordernde Ausstrecken des „Händchens“ drückt kindliche Hilflosigkeit und schmeichelnde Unterwürfigkeit aus, und zugleich einen auf das Wohlwollen des anderen vertrauenden eigennützigen Anspruch, während das „Ich pfeife auf eueren Schutz“ wie das trotzige Schmollen eines Kindes erscheint, welches „Rebellion“ und „Kindesdankbarkeit“ zugleich ist. Die Haltung des Volkes wird als väterliche „Wärme“ und „Pflichterfüllung“ gekennzeichnet. Dem entspricht im japanischen das viel diskutierte Begriffspaar giri und ninjō, das nach Doi in enger Beziehung zu Amae steht. Ninjō meint das spontane warme Gefühl, das Beziehungen wie die zwischen Eltern und Kindern normalerweise kennzeichnet. Wenn dieses aber nachlässt und es zu Spannungen kommt, tritt teilweise oder ganz giri
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(Pflicht[gefühl]) an dessen Stelle.15) Dem entspricht die enge Zuordnung der beiden Begriffe in unserem Abschnitt, wobei die Betonung des Pflichtcharakters und die verschiedenen kritischen Untertöne zeigen, dass Josefine offenbar nicht die Wärme findet, nach der sie verlangt. Das erklärt auch ihre schmollende Trotzreaktion, die aber hier anscheinend, ganz im Sinne von amaeru, eine versteckte Bitte und (noch) keine Absage an das Volk ist. Für solche aus enttäuschter Amae entstehenden Haltungen, die entgegen ihrem Anschein in Wirklichkeit zumeist ein Werben um Wohlwollen sind, hat die japanische Sprache eine ganze Reihe von treffenden, fein abgestuften Ausdrücken, wie suneru (trotzköpfig sein, übler Laune sein, schmollen), futekusareru (unverschämt sein, frech sein, schmollen), hinekureru (verschroben werden, verdreht werden), kodawaru (Schwierigkeiten machen, hemmen, widersprechen, sich klammern an), wadakamari (Zurückhaltung, Groll, boshafte Gesinnung, Besorgnis) und so weiter.16)
Ein wesentliches Element der Amae ist der Wunsch, alles ganz nach Laune und sogar aus Selbstsucht (kimama, wagamama) tun zu dürfen, ohne dabei das Wohlwollen der Gemeinschaft zu verlieren.17) Dem entspricht, dass man Josefine erlaubt, dass sie sogar unter Gefährdung des Volkes „nach ihrem Belieben irgendwo, irgendwann zum Gesange sich erhebt“, so dass man meinen könnte, „ . . . dass Josefine fast außerhalb des Gesetzes steht, dass sie tun darf, was sie will, selbst wenn es die Gesamtheit gefährdet, und dass ihr alles verziehen wird" (283). Doch setzt auch hier die „Befehlsgewalt“ des Volkes dem eine Grenze (283).
Dass es hier um eines der grundlegenden Probleme Kafkas geht, ergibt sich aus einer Passage eines Briefes an Felice Bauer, die Kafka für so wichtig hielt, dass er sie auch in seinem Tagebuch notierte und sie Max Brod in einem Brief mitteilte:

„Wenn ich mich auf mein Endziel hin prüfe, so ergibt sich, dass ich nicht eigentlich danach strebe, ein guter Mensch zu werden und einem höchsten Gericht zu entsprechen, sondern, sehr gegensätzlich, die ganze Menschen- und Tiergemeinschaft zu überblicken, ihre grundlegenden Vorlieben, Wünsche, sittlichen Ideale zu erkennen und mich dann möglichst bald dahin zu entwickeln, dass ich durchaus allen wohl-
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gefällig würde und zwar - hier kommt der Sprung - so wohlgefällig, dass ich, ohne die allgemeine Liebe zu verlieren, schließlich als der einzige Sünder, der nicht gebraten wird, die mir innewohnenden Gemeinheiten offen, vor aller Augen ausführen dürfte."18)

Dieser Text ist für unseren Zusammenhang höchst aufschlussreich. Was Kafka hier als sein Endziel angibt, entspricht offenbar ziemlich genau der Amae im oben angegebenen Sinn.19) Damit gewinnt aber auch die Annahme eines ähnlichen Grundmotivs in Josefines Haltung gegenüber dem Volk an Wahrscheinlichkeit.
Wenn wir nun von dem bisher erarbeiteten Interpretationsansatz her die Erzählung insgesamt im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Josefine und dem Volk betrachten, so findet meines Erachtens dieser Ansatz durchgehend seine Bestätigung.
An zahlreichen Stellen wird Josefines „Kindlichkeit“20) betont, die sich einerseits in ihrer „Zartheit“ und „Schwäche“ zeigt (270f. u. ö.), welche dem Volk das Gefühl gibt, dass sie „ihm anvertraut sei und es müsse für sie sorgen" (275). Andererseits drückt sie sich in ihrem kindlichen Gehabe, ihren Launen und Starallüren und in ihrem Eigensinn aus (271f. u. ö.). Hierauf, und nicht etwa auf ihrem „Gesang“, bei dem es sich in Wirklichkeit anscheinend um ganz gewöhnliches Pfeifen handelt (272-274), beruht offenbar auch ihr außergewöhnlicher Erfolg, weil sie im Publikum Erinnerungen und Träume vom Glück der Kindheit weckt (282). Dem Volk der Mäuse erlaubt der harte „Existenzkampf“ (280), „mitten im Tumult der feindlichen Welt“ (278), nämlich nur eine „winzige Kinderzeit“ (279), es hat „keine Jugend“ (281). Die Kehrseite dieses Sachverhaltes ist „eine gewisse unerstorbene, unausrottbare Kindlichkeit“, die das Volk durchdringt und es oft "wie Kinder töricht handeln“ läßt (280). „Von dieser Kindlichkeit unseres Volkes profitiert seit jeher auch Josefine“ (281), sie ist der Grund ihres
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Erfolges. Ihr Pfeifen ist „fast wie eine Botschaft des Volkes zu dem Einzelnen“ (278), es bezieht jeden einzelnen in das Ganze des Volkes ein, er kann sich an den Pelz des Nachbarn schmiegen (278) und vom Glück der Kindheit träumen (282). Josefines „Kunst“ hat demnach eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Durch die Zurschaustellung ihrer Kindlichkeit, ihrer Amae erlaubt sie dem einzelnen, besonders in Gefahrenzeiten, für kurze Zeit in die Welt der Amae einzutauchen und sich geborgen zu fühlen. Darauf, und nicht etwa auf wirklicher väterlicher Zuneigung, beruht also offenbar das Entgegenkommen des Volkes ihr gegenüber.21)
Dessen scheint sich auch Josefine immer mehr bewusst zu werden, wie ihre immer stärkere Launenhaftigkeit, ihre Wutausbrüche und so weiter zeigen.22) Das steigert sich bis hin zu „uneingestandenem Hass“ (271). Im japanischen entspricht dem unter anderem der Begriff shūnen (Groll, Rachsucht, Hartnäckigkeit), welcher nach Doi oft jemanden charakterisiert, der niemals vermittels Amae menschliche Wärme erfahren hat und der daher, zu Verfolgungs- oder Größenwahn neigend, egoistisch wird, sich an ein selbst gewähltes, meist unrealistisches Ziel klammert und dabei ein Gefühl der Vervollkommnung und Allmacht erstrebt.23) Diese Beschreibung dürfte auf Josefines Verhalten, besonders gegen Schluss der Erzählung, ziemlich genau zutreffen. Ihr Größenwahn zeigt sich in dem Anspruch, dass sie es sei, die das Volk beschütze (276; 282), und vor allem in ihrer Forderung nach Arbeitsbefreiung, die, wenigstens nach Ansicht des Erzählers, auf die „öffentliche, eindeutige, die Zeiten überdauernde, über alles bisher Bekannte sich weit erhebende Anerkennung ihrer Kunst“ zielt (285). Bei dieser angesichts der tatsächlichen Verhältnisse unrealistischen Forderung gewinnt man den Eindruck, dass es ihr wirklich um eine Art „Gefühl der Vervollkommnung und Allmacht“ geht. Trotz aller Widerstände klammert sich Josefine an das einmal gesteckte Ziel (285), wobei es ihr, genau wie dem Volk, nicht um die Kunst geht, sondern um die Stellung des einzelnen innerhalb des Volkes.24) Gerade deswegen aber lehnt das Volk aus seiner Position überlegener Macht heraus „ruhig die Forderung ab“ und „müht sich auch mit der Widerlegung der Gesuchsbegründung nicht sehr ab“ (284). Es „hört
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sie an und geht darüber hinweg" (284).
Dass es hier nicht allein um Josefines Schicksal geht, wird deutlich gesagt:

. . . dieser Kampf belustigt niemanden. Schon deshalb nicht, weil sich hier das Volk in seiner kalten richterlichen Haltung zeigt ... Und wenn einer auch diese Haltung in diesem Falle billigen mag, so schließt doch die bloße Vorstellung, dass sich einmal das Volk ähnlich gegen ihn selbst verhalten könnte, jede Freude aus. Es handelt sich eben ... darum, dass sich das Volk gegen einen Volksgenossen derart undurchdringlich abschließen kann . . . (285)

Diese kalte Abweisung des Volkes demonstriert der Erzähler selbst, der sich mehr und mehr mit der Position des Volkes identifiziert, indem er Josefines Ansprüche und verzweifelte Bemühungen um Sympathie mit herabsetzenden Bemerkungen,25) beißender Ironie und kaltem Hohn zurückweist (289 f.), wobei er, statt Begründungen zu geben, zumeist nur auf die Macht des Volkes hinweist. Andererseits scheinen die Härte des Existenzkampfes und die von allen Seiten drohenden Gefahren (273; 279 f.) eine solche Ablehnung notwendig zu machen. Daher hört das Volk über Josefines Erklärungen hinweg „wie ein Erwachsener in Gedanken über das Plaudern eines Kindes“, „grundsätzlich wohlwollend, aber unerreichbar“ (288), und nach Josefines Verschwinden zieht es „weiter seines Weges“, „ruhig, ohne sichtbare Enttäuschung, herrisch, eine in sich ruhende Masse" (290). So setzt sich am Ende die Macht und die Wirklichkeit des Volkes durch,26) während Josefine bald „in gesteigerter Erlösung vergessen sein (wird) wie alle ihre Brüder" (291).
Hiermit dürften die wichtigsten Aussagen zum Verhältnis zwischen Josefine und dem Volk, soweit sie sich auf das Problem des einzelnen in der Gesellschaft beziehen, zusammengefasst sein. Damit ist natürlich nur erst eine von mehreren Schichten dieser sehr komplexen Erzählung untersucht. Ehe eine Gesamtinterpretation versucht werden könnte, müssten zuvor auch alle anderen Aussagen, besonders die zum Problem der Kunst und des Küstlers, miteinbezogen werden. Doch dürfte deutlich geworden sein, wie wichtig das untersuchte Motiv für die Erzählung ist, so dass von
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daher verschiedene Interpretationen, die davon ausgehen, dass es Kafka hier allein um die Frage der Kunst gehe, einer Korrektur bedürfen.27) Die Problematik des Verhältnisses von einzelnem und Gesellschaft hat sich für Kafka zwar auf die des Künstlers in der Gesellschaft reduziert, doch behält sie auch in dieser Form ihre Relevanz nicht zuletzt gerade deswegen, weil in ihr das allgemeine Problem des einzelnen in der Gesellschaft stets gegenwärtig bleibt.
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1) Malcolm Pasley und Klaus Wagenbach: Datierung sämtlicher TexteFranzKafkas. In: Kafka-Symposion. Berlin 1965, S. 75.
2) Wilhelm Emrich: Franz Kafka. Frankfurt/Bonn 1965, S.172.
3) Max Brod: Franz Kafka. Eine Biographie. Frankfurt 1962, S. 251.
4) Vgl. Karl-Heinz Fingerhut: Die Funktion der Tierfiguren im Werke Franz Kafkas. Bonn 1969, S. 203-206, 295f.; Heinz Politzer: Franz Kafka, der Künstler. Frankfurt 1965, S.438.
5) Vgl. C. R. Woodring: Josephine the Singer or the Mouse Folk. In: Franz Kafka Today. Madison 1958, S. 72.
6) Politzer, a. a. 0., S. 438.
7) Vgl. die Belege bei Fingerhut, a. a. 0., S. 292.
8) Seitenangaben in Klammern im Text beziehen sich auf: Franz Kafka: Erzählungen. Frankfurt 1952.
9) Die Aussage dieses Satzes scheint sich nicht allein auf Josefine zu beziehen, sondern allgemein auf jeden einzelnen im Volk.
10) Amae ist das Nomen, amaeru das Verb.
11) Takeo Doi: The Anatomy of Dependence. Tokyo/New York,/San Francisco 1973. Übers. von: Amae no kōzō. Tokyo 1971, S. 7, 72-75/78-83 (Die Seitenzahlen vor dem Schrägstrich beziehen sich auf die Übersetzung, die dahinter auf die japanische Originalausgabe).
12) a. a. 0., S. 7 f., 11 ff. / 1 ff.
13) a. a. 0., S. 36 / 33 f. 14) a. a. 0., S. 8.
14) a. a. O., S. 8.
15) a. a. 0., S. 33-38 / 29-36.
16) Vgl. a. a. 0., S. 28-31 / 24-26.
17) a. a. 0., S. 99 / 114.
18) Briefe 1902-1924. Frankfurt 1975, S. 178. Vgl. Tagebücher 1910-1923. Frankfurt 1973, S. 333.
19) Unterschiede ergeben sich vor allem durch die Betonung einer umfassenden Erkenntnis als Voraussetzung für dieses „Endziel“, die zugleich dessen Erreichen als unmöglich erscheinen läßt. Außerdem verhindert Kafkas Einsicht in die Dinge ein naives Vertrauen in die Wärme der menschlichen Gemeinschaft, weil sie die dahinter-liegenden),Machtstrukturen aufdeckt, was auch in unserer Erzählung sehr deutlich wird.
20) Auch Kafka nennt sein Leben „ewige Kinderzeit“ (Tagebücher, S.339; vgl. 349). Vgl. Hartmut Binder: Motiv und Gestaltung bei Franz Kafka. Bonn 1966, S. 45 f.
21) Vgl. Brigitte Flach: Kafkas Erzählungen. Bonn 1967, S. 149 f.
22) Vgl. die oben vor Anm. 16 aufgefჼhrten japanischen Begriffe, die die enttäuschte amae beschreiben.
23) Doi, a. a. 0., S. 132 / 158f.
24) Flach, a. a. 0., S. 150.
25) Der überflüssige Hinweis etwa auf Josefines zu kurze Arrne (289) verrät seine Unsachlichkeit.
26) Vgl. Walter Sokel: Franz Kafka. Tragik und Ironie. Müchen/Wien 1964, S. 529.
27) Das gilt z.B. für Heinz Hillmann (Franz Kafka. Dichtungstheorie und Dichtungsgestalt. Bonn 1964, S. 93-107), Emrich (a. a. 0., S. 167-172) und Elm 486-488, die m. E. die Rolle der Kunst (als Befreiung, als Aufdecken des Wesens, der Wahrheit) überbetonen, sowie für Fingerhut (a. a. 0., S. 294 f) und bes. Emrich (a. a. 0.), die zu einseitig die Berechtigung des Standpunkts des Volkes hervorheben.
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