Auf der Galerie: Einführung - What became of my dreams

Go to content
-


Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938), Zirkusreiterin (1913)




                                                                                            
Auf der Galerie: Einführung
Auf der Galerie (1917) ist eines der bekanntesten und meist-interpretierten Stücke Kafkas. Es besteht aus nur zwei Absätzen, die jeweils von einem einzigen langen Satz gebildet werden. Beschrieben wird zweimal derselbe Vorgang in einer Zirkusmanege aus der Sicht eines Galeriebesuchers. Wegen der übersichtlichen Form und des deutlich erkennbaren Gegensatzes zwischen den beiden Abschnitten scheint der Sinn des Textes leichter erschließbar als sonst bei Kafka. Eine lange gängige Interpretation sieht im ersten Abschnitt die Beschreibung eines kritischen Bewusstseins, einen jungen Mann, der einen unerträglichen sozialen Missstand aufdeckt und einschreitet, um ihn zu verhindern. Im zweiten Absatz dagegen handele es sich um die Beschreibung des schönen Scheins, der die grausame Wirklichkeit dahinter verdecke. Dies ahne der Galeriebesucher am Ende, aber im Weinen versinkend bleibt er unfähig zu handeln. Das ist eine pädagogisch sehr wirksame Interpretation, bei Lehrern daher lange beliebt, aber leider sagt Kafkas Text fast das genaue Gegenteil. Wie vielschichtig und geradezu raffiniert dieser kurze Text angelegt ist, erschließt sich erst bei einer sehr genauen Untersuchung (die bei Kafka immer angebracht ist), aber dann wird man belohnt mit Einsichten in die menschliche Natur, die grundlegend sind für die eigene Lebensgestaltung bis hin zum Verständnis anderer Kulturen.
In Kafka lesen: Auf der Galerie versuche ich, möglichst nah am Text, diesen zu interpretieren auf der Grundlage von Untersuchungen, die ich anderswo dargestellt habe. (Die Einzeldiskussionen und alle Belege finden sich in meinem deutschen und - unter teils anderer Perspektive - in dem englischen Artikel zur Galerie.) Danach ergibt sich: Es geht in Auf der Galerie um zwei oft als gegensätzliche empfundene Grundhaltungen, zwei unterschiedliche Möglichkeiten, sich zur Wirklichkeit zu verhalten, zwei unterschiedliche Sichtweisen und ihre Konsequenzen. Man kann hier auch wieder an den Unterschied zwischen Kafkas Welt im Kopf und seinem traumhaften innern Leben denken.
Die Haltung im ersten Absatz ist bestimmt durch kritisch-rationale Distanz zur Wirklichkeit, durch zergliedernde Analyse und logische Zusammenhänge als Grundlage für rational-verantwortliches Handeln und durch aktives Engagement, aber auch durch Schwarz-Weiß-Malerei und ideologische Überformung der Wirklichkeit und letztlich Scheitern an der Wirklichkeit. Die Haltung im zweiten Absatz ist gekennzeichnet durch Annehmen der Wirklichkeit so wie sie ist, und durch ein passives Aufnehmen der Bilder, die sich impressionistisch, ohne logische Verknüpfung aneinanderreihen. Mögliche Widersprüche zum schönen Schein des Zirkus werden durchaus erahnt und erspürt, bleiben aber in der Schwebe. Auch das Weinen am Ende bleibt in seinen negativen oder positiven Implikationen unbestimmt, es zeigt ein tiefes, emotional bestimmtes Verhältnis zur Wirklichkeit, das aber in seiner Unbestimmtheit keine Grundlage bilden kann für verantwortliches Handeln.
Der hier aufgezeigte Gegensatz findet seine Entsprechung in den damals wie heute oft noch beliebten Gegensatzpaaren von männlich-weiblich, aktiv-passiv, rational-emotional, kritische Distanz und Einfühlung, um nur einige zu nennen. Besonders seit der Zeit des Exotismus werden mit diesem Schema auch gerne reale oder imaginierte Gegensätze zwischen West und Ost, oder auch zwischen dem Westen und Japan beschrieben.
Dabei sind solche Vorstellungen nicht ganz unberechtigt. Was Kafka im zweiten Absatz beschreibt, zeigt tatsächlich eine gewisse Nähe zu Sprach- und Verhaltensformen in Japan, die zumindest in der Hauptströmung der europäischen Kultur nicht so ausgeprägt sind. Während der erste Absatz grammatikalisch und logisch klar durchstrukturiert ist, löst sich die Struktur im zweiten Abschnitt schnell auf oder bleibt zumindest in der Schwebe, wie besonders das unbestimmte „da dies so ist”.
In den Umkreis von Auf der Galerie gehört auch das kurze Stück Der Kreisel, in dem ein Philosoph scheitert bei dem Versuch, das Wesen des Kreisels reflektiert und distanziert zu erfassen, während die Kinder fasziniert das Spiel mit dem Kreisel genießen und dabei ganz eins werden mit ihrem Gegenstand.
Back to content