Metamorphosis - What became of my dreams

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Amae in Kafkas Die Verwandlung
in: Kafka-Symposium, 14. Dezember 1984, Sophia Universität, Tokyo, S. 18-25
[Zahlen in Klammern hinzugefügt: Seitenzahlen von Kafka, Sämtliche Erzählungen; Bild hinzugefügt]
Gerhard Schepers

Die Verbindung von Kafka und Amae mag manchem eigenartig erscheinen, aber seitdem ich vor mehr als zehn Jahren meine erste Vorlesung in Japan über Kafkas Verwandlung gehalten und zugleich Takeo Dois The Anatomy of Dependence (Amae no Kozo) gelesen habe, hat mich dieses Thema viel beschäftigt. Immer wieder entdecke ich dabei Stellen in Kafka, an denen offensichtlich eine der Amae mindestens sehr ähnliche Haltung sichtbar wird. Wie allerdings Amae als nur ein Aspekt der japanischen Mentalität zu verstehen ist, so müssen auch ihre oft erstaunlichen Entsprechungen bei Kafka in einem größeren Zusammenhang gesehen werden. Es handelt sich um eine für Kafka grundlegende Haltung, die sich in seinen Lebenszeugnissen und Werken darstellt etwa als das Problem des Sich-Einfügens ins Ganze, in die Gemeinschaft, das Einssein oder sich ganz Identifizieren mit einer Person oder Sache, das Im-Augenblick-Ruhn, von dem er in seinen Tagebüchern spricht, das Passive, Gefühlsmässige, Intuitive und all die anderen Haltungen, die sich mit dem traditionellen Begriff des Weiblichen oder auch des Kindlichen verbinden. Diese erscheinen oft im Gegensatz zu anderen Elementen, die in der westlichen Tradition stärker betont werden, wie das Rationale, Kritisch-Analytische, Aktive, Gegensätzliche, Einzelne. Ein Beispiel hierfür ist Kafkas Auf der Galerie. Dort wird auch zugleich deutlich, in welche Aporien die einseitige Betonung der zuletzt genannten Elemente führt und wie sehr sich einer solchen Haltung das Wesen der ersteren verschließt, ganz zu schweigen von einer möglichen Integration, wie sie Jung im Zusammenhang mit seinen Begriffen Animus und Anima diskutiert. Hier dürfte auch der Grund liegen, warum die mit der Amae zusammenhängenden Elemente von vielen Kafka-Interpreten übersehen, verkannt oder negativ bewertet werden. Wo sie sich nicht in die Kategorien und abstrakt-rationale Begrifflichkeit des westlichen Denkens einordnen lassen, versucht man dies dennoch zu erreichen, indem man sie als paradox, absurd, ambivalent, irrational und so weiter bestimmt. Dass es aber auch anders geht und dass dabei ganz neue Zusammenhänge sichtbar und andere, positive Wertungen möglich werden, hat sich mir aufgrund meiner Erfahrungen in Japan immer deutlicher gezeigt.
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Ähnliches gilt meiner Meinung nach übrigens auch für die japanische Kultur und Mentalität, die ja auch so oft missverstanden werden, wo man versucht, sie in die Kategorien und Schemata des westlichen Denkens einzuordnen.
In Bezug auf Amae möchte ich das Gesagte nun durch einige Stellen besonders aus der Verwandlung belegen, an denen so etwas wie Amae oder eine der damit zusammenhängenden Haltungen sichtbar werden. Amae lässt sich bestimmen als emotionale, fast kindliche Abhängigkeit, als Wunsch angenommen, umhegt, geliebt zu werden, und als die darauf bezogenen Haltungen und Handlungen, wie sie Doi in seinem Buch beschrieben hat. Oft impliziert Amae die Weigerung, die rauhe Wirklichkeit zu akzeptieren, und den Wunsch, sich stattdessen in die, nicht selten illusionäre, Wärme menschlicher Beziehungen zu flüchten.
Wie sehr all dies auf Gregor zutrifft, zeigt sich besonders am Beginn der Erzählung. Ein gutes Beispiel ist die folgende Stelle:

Er ... war begierig zu erfahren, was die anderen, die jetzt so nach ihm verlangten, bei seinem Anblick sagen würden. Würden sie erschrecken, dann hatte Gregor keine Verantwortung mehr und konnte ruhig sein. Würden sie aber alles ruhig hinnehmen, dann hatte auch er keinen Grund sich aufzuregen und konnte, wenn er sich beeilte, um acht Uhr tatsächlich auf dem Bahnhof sein.“ (64)


Es handelt sich hier um eine Reflexion Gregors, der sich bei seinem Erwachen morgens in ein ungeheures Ungeziefer (56) verwandelt fand und sich nun nach längerem Zögern entschlossen hat, seine Zimmertür zu öffnen und sich der Familie und dem aus dem Geschäft herbeigeeilten Prokuristen zu zeigen. Bei der Interpretation ist hier, wie auch an den weiteren Stellen, die von vielen Interpreten herausgestellte Einsinnigkeitoder perspektivische Bezogenheit des Gesagten auf Gregor zu berücksichtigen. Fast alles, was gesagt wird, auch scheinbar objektive Beschreibungen und Feststellungen, ist Ausdruck von Gregors subjektivem Bewusstsein. (Es wäre übrigens interessant, dies mit ähnlichen Phänomenen in der japanischen Sprache und Kultur zu vergleichen.)
Der erste Satz des Zitats zeigt, dass Gregor sich weigert, wie schon seit Beginn der Erzählung, seine eigene Situation objektiv zu analysieren, denn dann würde er natürlich wissen, was die anderen bei sei-
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nem Anblick sagen werden. Stattdessen macht er seine eigene Bewertung der Situation ganz von ihrer Reaktion abhängig. Das doppeldeutige so nach ihm verlangten weist auf die Tatsache hin, dass die anderen Gregor auffordern, vor ihnen zu erscheinen, während er, wie sich aus dem folgenden ergibt, es so verstehen möchte, dass sie Verlangen haben nach ihm und so auf seine Amae eingehen.
Analysiert man die beiden folgenden Sätze, so erscheinen diese, ganz im Gegensatz zu ihrem auf den ersten Blick so logischen Aufbau, als paradox oder gar absurd. Sie zeigen bestenfalls nur die Sinnlosigkeit solcher Folgerungen. Vom Standpunkt der Amae aus sind sie dagegen durchaus folgerichtig. Wenn die anderen erschrecken, dann betrachten sie ihn als Insekt und dann hat er, wie ein kleines Kind, keine Verantwortung mehr und sie müssen für ihn sorgen. Bleiben sie aber ruhig, dann glaubt er, so sehr ist er von ihrer Meinung abhängig, er könne wie zuvor weiterleben. Es kommt ihm nur auf das Gefühl an, dass die anderen sich um ihn sorgen, ohne Rücksicht auf die tatsächliche Situation. Wie sehr er sich diesem Gefühl hingibt, zeigt die folgende Stelle. Die Familie ist natürlich sehr erschrocken, schon als sie seine Stimme durch die Tür hört. Die Mutter schickt nach dem. Arzt, der Vater nach dem Schlosser, um die Tür zu öffnen. Gregors Reaktion entspricht seiner, vorhergehenden Überlegung: die anderen haben die Verantwortung übernommen und so ist er ruhig, trotz seiner verzweifelten Lage:

Aber immerhin glaubte man nun schon daran, dass es mit ihm nicht ganz in Ordnung war, und war bereit, ihm zu helfen. Die Zuversicht und Sicherheit, mit welchen die ersten Anordnungen getroffen worden waren, taten ihm wohl. Er fühlte sich wieder einbezogen in den menschlichen Kreis und erhoffte von beiden, vom Arzt und vom Schlosser, ohne sie eigentlich genau zu scheiden, grossartige und überraschende Leistungen.“ (64)


Der letzte Satz zeigt ironisch, welch irrationalen Hoffnungen sich Gregor hingibt, sobald er sich in der Welt der Amae geborgen glaubt. Zugleich wird so, wie auch an anderen Stellen, von Anfang an deutlich, dass dieses Gefühl enttäuscht werden wird.
Beides, Amae und enttäuschte Amae sind auch in der Beschreibung des Ungeziefers angedeutet, werden also von Gregor buchstäblich verkörpert. Der empfindliche untere Teil seines Körpers und die kläglich dünnen, hilflos flimmernden (56) Beinchen zeigen seine Schwäche und Hilflosigkeit, die in der Erzählung immer wieder betont wird. Durch seine Verwandlung zwingt er seine Familie, für ihn wie für ein Baby zu sorgen. Dass dies seinem innersten Wunsch nach Amae entspricht, zeigt sich an vielen Stellen. Als er sich zum Beispiel unter grossen Anstrengungen bemüht,
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aus dem Bett zu kommen, und endlich so weit ist, dass er sich nur noch fallen lassen muss, kommt ihm plötzlich der Gedanke, wie schön es wäre, wenn seine Familie käme und ihn wie ein Baby aus dem Bett heben würde. Im Brief an den Vater lässt Kafka seinen Vater ihm vorwerfen: Was kümmert es Dich jetzt, wenn Du lebensuntüchtig bist, ich habe ja die Verantwortung, Du aber streckst Dich ruhig aus und lässt Dich, körperlich und geistig, von mir durchs Leben schleifen.
Zu Gregors weiteren körperlichen Merkmalen gehören sein flacher Körper, der den anderen zu Füssen liegt, und sein Kriechen, die einer inneren Haltung entsprechen, wie sie sich besonders in seiner kriecherischen Unterwürfigkeit gegenüber dem Prokuristen, aber auch gegenüber dem Vater zeigt.
Weit häufiger allerdings zeigt er seine enttäuschte Amae, damit die anderen sich ihm zuwenden und ihn umsorgen. Tun sie es nicht, so zeigt er seine Enttäuschung in einer für die Amae typischen Form, etwa als ihm seine Schwester Milch gebracht hat, die er nun nicht mehr mag:

... ob sie eine andere Speise hereinbringen würde, die ihm besser entsprach? Täte sie es nicht von selbst, er wollte lieber verhungern als sie darauf aufmerksam machen, trotzdem es ihn eigentlich ungeheuer drängte, unterm Kanapee vorzuschiessen, sich der Schwester zu Füssen zu werfen und sie um irgendetwas Gutes zum Essen zu bitten.“ (72)

Diese Haltung, nämlich dass er einerseits bereit ist, zu verhungern, und andererseits ein ungeheures Verlangen fühlt, seine Schwester um etwas zu essen zu bitten, wäre paradox oder absurd, ginge es ihm nur um das Essen. Worum es ihm wirklich geht, ist aber, dass er sich danach sehnt, von seiner Schwester umsorgt zu werden, und das drückt er in zwei verschiedenen Formen von Amae aus. Die erstere könnte man auf Japanisch hinekureru nennen (verschroben, querköpfig sein), was nach Doi bedeutet, dass man Desinteresse zeigt statt Amae, während man aber in Wirklichkeit darauf brennt, die Reaktion des anderen zu erfahren. Die letztere entspricht dem japanischen tanomu (bitten, anflehen, sich verlassen auf), nach Doi ebenfalls eine Form der Amae. So erklärt der Hinweis auf die Psychologie der Amae den scheinbaren Widerspruch in Gregors Haltung.
Der Ausdruck sich zu Füssen werfen bezieht sich dabei ebenfalls wieder sowohl auf seine neue körperliche Gestalt wie auf seine innere Haltung. Gleiches gilt auch für seine enttäuschte Amae. Sie zeigt sich zum Beispiel darin, dass er den anderen seinen gepanzerten Rücken zuwendet
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(wie er vorher seine Zimmertüren verschloss) und dass er oft hartnäckig genannt wird, was auch seiner körperlichen Erscheinung entspricht, oder wenn er, nachdem die Mutter gegen seinen Willen sein Zimmer gesäubert hat, breit, verbittert und unbeweglich auf dem Kanapee liegt (88).
Im Japanischen entsprechen dem die Begriffe kodawaru (hemmen, sich klammern an), futekusareru (schmollen, verbittert sein) oder suneru (trotzköpfig sein, schmollen) und vor allem Higaisha-Ishiki (das Gefühl, geschädigt zu werden, unter etwas zu leiden, das andere tun). Für letzteres findet sich eine Fülle von Beispielen in der Verwandlung wie auch in Kafkas Lebenszeugnissen. Je mehr Gregor erkennen muss, dass seine Amae keine Erfüllung findet, desto grösser wird seine Frustration, bis hin zu Verfolgungs- und Grössenwahn.
Diese Steigerung zeigt sich besonders, als die Mutter und die Schwester sein Zimmer ausräumen. Zunächst scheint er keine Einwände zu haben, doch dann wird er immer nervöser. Jedes kleinste Geräusch irritiert ihn und scheint geradezu physisch auf ihn einzuwirken. Sein geliebter Schreibtisch wird beschrieben als schon im Boden fest eingegraben“ (81), wie er es offenbar in seinem Herzen ist, und der Versuch, ihn zu entfernen, berührt ihn wie ein Akt brutalster Gewalt. So stürzt er aus seinem Versteck und klammert sich verzweifelt an ein Bild, an dem er besonders hängt, was dem japanischen kodawaru entspricht. Als er dann auch noch sieht, wie die Schwester liebevoll den Arm um die Mutter gelegt hat und sie fast trägt, also genau das tut, was er von ihr erhofft hatte, da flieht er in Verfolgungs- und gleichzeitig Größenwahn, die beide nach Doi typisch für die enttäuschte Amae sind. Er glaubt, die Schwester werde ihn von der Wand jagen, während er ihr ins Gesicht springen will, eine absurde Vorstellung angesichts seines Insektenkörpers.
Ihren Höhepunkt erreicht diese Entwicklung, als sich die ganze Fürsorge der Familie, die er ersehnt, den neuen Zimmerherren zuwendet. Alles, was seine Eltern und die Schwester für sie tun, erscheint ihm als eine Zurückweisung seiner Amae. Wie sehr er dadurch irritiert, gekränkt und schließlich erbost ist, zeigt sich fast in jedem Wort der Beschreibung. Im Japanischen könnte man hier aus dem Vokabular der enttäuschten Amae die Begriffe higamu (argwöhnisch sein, sich unfair behandelt fühlen) oder sogar uramu (grollen) gebrauchen. Während Gregor die Zimmerherren beobachtet, erscheint ihm sogar das Geräusch ihrer Zähne als gegen ihn gerichtet, ein gutes Beispiel für das von Doi angeführte higaiteki ni uketoru (etwas, oft irrtümlich, als Angriff auf oder Kritik an einem selbst auffassen):

Sonderbar schien es Gregor, dass man aus allen mannigfachen Geräu‑
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schen des Essens immer wieder ihre kauenden Zähne heraushörte, als ob damit Gregor gezeigt werden sollte, dass man Zähne brauche, um zu essen, und dass man auch mit den schönsten zahnlosen Kiefern nichts ausrichten könne.(90)


Da die Zimmerherren nicht einmal von seiner Existenz wissen, ist es klar, dass der ganze Vorgang nur in seiner Einbildung existiert. Als die Zimmerherren auch noch die Schwester, die ihm am nächsten steht, für sich beanspruchen, während er in seiner schmutzigen Rumpelkammer alleingelassen ist, flieht er in die Wahnvorstellung einer vertraulichen und rührenden Szene mit ihr in seinem Zimmer. Musik soll dabei das gemeinsame Band zwischen ihnen sein, obwohl vorher gesagt worden war, dass er, im Gegensatz zu seiner Schwester, Musik gar nicht liebt. Diese Illusionen werden abrupt zerstört, als die Zimmerherren ihn entdecken. Er wird nun endgültig aus der Gemeinschaft der Familie ausgeschlossen. So bleibt ihm, wie ähnlich in Japan, nur noch eine Möglichkeit, in die Welt der Amae zurückzukehren, wenigstens in der Illusion: Er muss sich für seine Familie opfern. So ergibt er sich in sein Schicksal. In der Nacht vor seinem Tod fühlt er.sich, so unglaublich es klingen mag, verhältnismässig behaglich, trotz Schmerzen im ganzen Leib“ (96). Schliesslich stirbt er genug friedlich und mit allen ausgesöhnt, wie Kafka in einem Brief unmittelbar nach Fertigstellung dieser Passage schreibt. An seine Familie, die für seinen einsamen Tod verantwortlich ist, denkt er

mit Rührung und Liebe zurück. Seine Meinung darüber, dass er verschwinden müsse, war womöglich noch entschiedener als die seiner Schwester.“ (96)


Er ist ganz einer Meinung mit seiner Familie und in diesem Gefühl nun wieder eins mit ihnen, obwohl das zugleich das Ende seiner individuellen Existenz bedeutet.
Ich habe mich hier nur auf die Beschreibung von Gregors Amae beschränkt. Daneben finden sich aber auch Beispiele von Amae bei den Eltern und der Schwester, und in diesem Fall ist es Gregor, der darauf reagiert, indem er etwa die Schwester zu verwöhnen sucht.
Welch wichtige Rolle eine der Amae entsprechende Haltung für Kafka selbst offenbar spielte, zeigt sich an folgender Briefstelle:

Wenn ich mich auf mein Endziel hin prüfe, so ergibt sich, dass ich nicht eigentlich danach strebe, ein guter Mensch zu werden und einem höchsten Gericht zu entsprechen, sondern, sehr gegensätzlich, die ganze Menschen- und Tiergemeinschaft zu überblicken, ihre grundle
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genden Vorlieben, Wünsche, sittlichen Ideale zu erkennen, sie auf einfache Vorschriften zurückzuführen, und mich in dieser Richtung möglichst bald dahin zu entwickeln, dass ich durchaus allen wohlgefällig würde, und zwar (hier kommt der Sprung) so wohlgefällig, dass ich, ohne die allgemeine Liebe zu verlieren, schliesslich, als der einzige Sünder, der nicht gebraten wird, die mir innewohnenden Gemeinheiten offen, vor aller Augen, ausführen dürfte. Zusammengefasst kommt es mir also nur auf das Menschengericht an und dies will ich überdies betrügen, allerdings ohne Betrug.

Diese Passage aus einem Brief an seine Braut Felice hielt Kafka offenbar für so wichtig, dass er sie nicht nur in seinem Tagebuch notierte, sondern sie auch seinem Freund Max Brod in einem Brief mitteilte, wo er sie sogar als seine Grabinschrift vorschlägt. Das zeigt, wie auch das Wort Endziel am Anfang, dass die Beziehung zu Felice hier nur der Anlass für eine grundlegende Selbsterkenntnis ist (Mittelpunkt einer Selbsterkenntnis nennt er sie im Brief an Brod), die ein wichtiges Element seiner Lebensauffassung bildet. Es geht ihm nicht nur um einzelne persönliche Beziehungen, sondern um, wie er sagt, die ganze Menschen- und Tiergemeinschaft oder um alle. Zugleich deutet sich hier aber auch eine gewisse ironisch-selbstkritische Distanz an, die sich besonders in dem Vorschlag mit der Grabinschrift und der diesem vorausgehenden Frage: Was sagst Du zu diesem blendenden Stück Selbsterkenntnis?, sowie in den, meist ironischen, Übertreibungen der zitierten Briefstelle zeigt.
Worauf es ihm ankommt, sind nicht so sehr universale moralische Werte (ein guter Mensch zu werden) oder eine absolute moralische Autorität (ein höchstes Gericht), sondern, ganz im Gegenteil, dass er allen wohlgefällig wird. Diese Haltung ähnelt der Ablehnung absoluter Werte und der Betonung menschlicher Beziehungen in Japan, besonders im Zusammenhang mit der Psychologie der Amae. Typisch ist Kafkas Aufzählung ihre grundlegenden Vorlieben, Wünsche, sittlichen Ideale, in der die moralischen Werte erst nach den für die menschlichen Beziehungen wichtigen Vorlieben und Wünschen kommen. Das allen wohlgefällig werden ließe sich im Japanischen mit toriiru übersetzen, einem zentralen Begriff innerhalb der Psychologie der Amae. Eine typische Form der Amae ist es auch, wenn Kafka sich, ohne die Liebe aller zu verlieren, offen ki-mama (nach Lust und Laune) oder sogar waga-mama (eigensinnig) benehmen möchte, ohne dafür bestraft zu werden. Wie irrational eine solche
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Handlung vom Standpunkt westlichen Denkens erscheint, deutet Kafka an, wenn er sagt, dass er das Menschengericht ohne Betrug betrügen will. Auch das Wort Sprung weist darauf hin.
Interessant ist auch der Ausdruck Gemeinheiten. Das Wort wird oft abgeschwächt gebraucht, ähnlich wie etwa dummer Streich, besonders bei Kindern. Es impliziert häufig, dass man die betreffende Handlung nicht so ernst nimmt, oder schon halb vergeben hat, also eine der Amae ähnliche Haltung. Die Worte Sünder und gebraten werden beziehen sich ironisch auf die religiösen Vorstellungen von Sünde und Hölle und zeigen, dass Kafka hier die Idee eines Vater-Gottes, der den Sünder erbarmungslos bestraft, zurückweist. Stattdessen sehnt er sich nach der mütterlichen Welt der Amae, in der auch der Sünder von warmer, vergebender Liebe umfasst wird.
Im einem entscheidenden Punkt allerdings unterscheidet sich Kafkas Haltung von der japanischen Mentalität. Er sieht es als Vorbedingung an, dass er nicht nur die ganze Menschen-, sondern auch die Tiergemeinschaft, also alle Lebewesen, überblicken und alle ihre Besonderheiten erst erkennen muss, was natürlich bedeutet, dass das unmöglich ist. Das wird auch angedeutet durch die Komplexität des ganzen Satzes, durch das durchaus vor wohlgefällig werden, das oft eine unerwartete Aussage oder schwer denkbare Möglichkeit hervorhebt, und durch den Irrealis. Während Kafka also etwas der Amae sehr Ähnliches anstrebt und dieses sogar als sein Endziel bezeichnet, macht er zugleich deutlich, dass es unerreichbar ist. Seine Amae kann keine Erfüllung finden, sie bleibt eine Illusion, wie es ja auch in der Verwandlung der Fall ist.
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