Amae (emotionale Abhängigkeit) und Kafka - Was aus meinen Träumen wurde

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Amae (emotionale Abhängigkeit) - Kafka und Japan

Als Kafka 1914 statt der ungeheuren Welt, die ich im Kopf habe (1913) von seinem traumhaften innern Leben sprach, deutet sich an, dass von da an seine innere Gefühlswelt für ihn immer wichtiger wurde. Zugleich kämpfte er mit dem Problem, dass vieles von dem, was er in sich spürte, im Bewusstsein seiner Zeitgenossen und damit auch in der Sprache gar nicht vorhanden war. Wie tief er trotzdem in diese Gefühlswelt eindringen und ihr in seinen Texten sprachlichen Ausdruck geben konnte, wurde mir erst durch meinen Aufenthalt in Japan bewusst. Eine zentrale Rolle dabei spielt der Begriff der Amae, eine emotionale Abhängigkeit, die ich in ihren vielen Spielarten im Bereich der menschlichen Beziehungen in Japan immer wieder auch persönlich erlebt habe (ausführlicher dazu: deutsch/englisch). Geholfen dabei hat mir vor allem die Tatsache, dass die japanische Sprache eine ganze Fülle von Begriffen hat, um die verschiedenen Aspekte der Amae auszudrücken und sie somit bewusst zu machen. Als glücklicher Umstand kam hinzu, dass Takeo Doi, Bestsellerautor und die Autorität zum Thema der Amae, für einige Jahre mein Kollege an der Universität war und sich sehr für meine Forschungen zur Amae bei Kafka interessierte.
Amae bezeichnet nach Doi ursprüglich die Gefühle jedes normalen Säuglings an der Brust der Mutter: das Gefühl der Abhängigkeit, den Wunsch, ganz von der mütterlichen Liebe und Wärme umgeben zu sein, und die Abneigung und Furcht, von der Mutter getrennt und mit der rauen Wirklichkeit konfrontiert zu werden. Ähnliche Gefühle bestimmen nun aber teilweise auch noch den Erwachsenen, und zwar in Japan offenbar weit mehr als im Westen. So besteht in Japan die Tendenz, die Eltern-Kind-Beziehung als Ideal für alle menschlichen Beziehungen anzusehen. Daher sucht man nach Beziehungen, die einerseits eine starke emotionale Abhängigkeit beinhalten, andererseits aber das Gefühl geben, geliebt und von menschliche Wärme umhegt zu werden. Und so kann man im Vertrauen auf das Wohlwollen des anderen sich gehenlassen, seinen eigenen Launen folgen, ja sogar eigensinnig und selbstsüchtig handeln wie ein Kind.
Besonders interessant für die Beschäftigung mit Kafka ist das umfangreiche Vokabular, das die japanische Sprache entwickelt hat, um diese Phänomene bis hin zu den feinsten psychologischen Unterschieden in Worte zu fassen. Für viele dieser Begriffe finden sich im Deutschen keine Entsprechungen.

Das Verb amaeru [wörtlich: süß tun] kann je nach dem Zusammenhang bedeuten: schmeicheln, sich schmiegen, kokettieren, sich das Wohlwollen eines anderen zunutze machen, sich gehenlassen, eigensinnig, launisch, selbstsüchtig sein, oder sich (allzu optimistisch) auf etwas verlassen; wobei aber meist mehrere Bedeutungen ineinanderspielen. Oder sie werden durch Wörter aus dem Umfeld von Amae genauer bestimmt. Hinzu kommen zahlreiche Begriffe, die die Gefühle beschreiben, wenn die Amae enttäuscht wird. Grundlegend ist immer ein (kindliches) Gefühl der Abhängigkeit und das Vertrauen auf das Wohlwollen des anderen.
In Deutschland dürfen allenfalls Verliebte süß tun“ wie Kinder, sonst spricht man abwertend von „Süßholz raspeln.“ Dass das nicht immer so war, zeigt ausgerechnet Luther, der sogar gegenüber Christus süß werden kann.
Dass Kafka unter diesen Umständen die Welt der Amae in seinem „traumhaften innern Leben“ entdecken und in ihren verschiedenen Erscheinungsformen beschreiben konnte, ist eine ganz erstaunliche Tatsache. Auch hundert Jahre später wächst offenbar unter westlichen Psychoanalytikern nur langsam die Einsicht, dass die Phänomene der Amae zu jedem Menschen gehören und wichtig sind für die Entwicklung seiner Persönlichkeit. Dass also Amae kein allein auf Japan beschränktes kulturspezifisches Phänomen ist und dass Amae Teil der normalen Entwicklung des Menschen ist. Dieser Punkt wird zurecht betont von Matthew H. Bowker, der die Beziehung zwischen Amae und den Hikikomori untersucht hat. Er geht dabei auch auf Kafkas Verwandlung ein und sieht in Gregor Samsa einen typischen Fall von Hikikomori, den er unter Bezug auf die Psychologie der Amae analysiert. Damit bestätigt er auch Forschungsergebnisse, die ich bereits vor über vierzig Jahren vorgelegt habe.
Es lohnt sich also, sich mit Amae in Kafka zu befasssen. Die ganze Komplexität dieses Phänomens wird bei ihm in einer Anschaulichkeit und Tiefe sichtbar, wie sie psychoanalytische und andere wissenschaftliche Analysen kaum je erreichen. Letzteres gilt natürlich besonders, wenn kulturspezifische Vorurteile hinzukommen, wie das bei Amae häufig der Fall ist. Am nächsten kommt man einem Verständnis dieses Phänomens wohl durch eine intensive Lektüre von Kafkas Texten, bei der man immer wieder neue Zusammenhänge entdecken kann. In dieser Zusammenfassung kann ich hier nur einige Hinweise geben und ansonsten auf meine Veröffentlichungen hinweisen.
An mehreren Stellen in Kafkas Werken finden sich Hinweise auf eine der Amae ähnliche Haltung. Dazu gehören auch solche in seinen Lebenszeugnissen, vor allem in seinen Briefen, die zeigen, wie persönlich nahe ihm das Thema geht. Die beiden wichtigsten sind eine Passage in seinem letzten Brief an seine Verlobte Felice und sein Brief an den Vater. An Felice schreibt er, dass es sein Endziel nicht sei, ein guter Mensch zu werden, sondern dass er versuchen wolle, herauszufinden, wie er allen wohlgefällig sein und von allen geliebt werden könne und zwar so sehr, dass man ihm alle seine Gemeinheiten durchgehen lassen würde. Die Nähe zum japanischen Verständnis der Amae ist offensichtlich, aber manche ironische Übertreibungen in dieser Passage zeigen auch eine (selbst)kritische Distanz (ausführlicher dazu: deutsch/englisch).
Auch im Brief an den Vater zeigt sich an vielen Stellen diese Nähe zur Gefühlswelt der Amae: Abhängigkeit, Schuldgefühle, der Wunsch nach Zuneigung und Angenommensein trotz aller Schwächen und die ständigen Klagen und Vorwürfe, die in dem Satz gipfeln: Mein Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte.“  Das kann ja eigentlich nur bedeuten, dass Kafkas Literatur insgesamt eine Form der Amae gegenüber dem Leser ist, ähnlich wie er in dem Brief an Felice das Wohlwollen und die Liebe aller erhofft. Es lohnt sich, darüber nachzudenken (mehr dazu).
In der Verwandlung werden die  verschiedenen Aspekte der Amae und die daraus entstehenden komplexen menschlichen Beziehungen nicht  etwa kafkaesk, sondern äußerst realitätsnah beschrieben, so nahe an der Wirklichkeit des Menschen, dass die innere Gefühlswelt und die Erfahrungen des Gregor Samsa in vielen Punkten ziemlich genau dem entsprechen, was hundert Jahre später die Hikikomori  in Japan erleben (s. o.). Auch an dieser Stelle kann ich nur empfehlen, sich den Text unter Berücksichtung des zuvor Gesagten zu erlesen und sich hier (deutsch/englisch) einige Anregungen dazu zu holen.
Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse ist die letzte Erzählung Kafkas. Er korrigierte sie noch auf dem Sterbebett. Auch hier steht noch einmal die Beziehung des einzelnen zur Gemeinschaft im Mittelpunkt und auch hier spielt die innere Gefühlswelt mit ihren Elementen der Amae eine wichtige Rolle. Neu ist aber, wie der Titel anzeigt, dass wir jetzt eine Frau, zudem eine Künstlerin, als Hauptfigur haben, der das Volk gleichwertig gegenübersteht. Auch verschiebt sich die Perspektive von dem einzelnen (Gregor Samsa) auf einen Erzähler, der zumindest anfangs neutral zu sein scheint. Er sieht die Beziehung Josefines zum Volk wie die eines Kindes zu seinem Vater, mit einer emotionalen Abhängigkeit ähnlich der Amae. Über ihre Kunst kann Josefine diese Gefühlswelt der Amae dem Volk vermitteln und ihm so erlauben, wenigstens zeitweise in diese Welt einzutauchen und ihre Wärme zu erfahren. Das stärkt das Volk in seinem schweren Überlebenskampf und gibt Josefine eine wichtige Funktion dabei. Gegen Ende der Erzählung mehren sich aber die Hinweise, dass es sich mit Josefine ganz anders verhalten könnte. Dass sie sich aus der Abhängigkeit der Welt der Amae befreit, unabhängig und selbstbewusst wird, auch wenn das ihren Ausschluss aus der Gemeinschaft bedeutet. Ihr Vorbild wäre dann Kafkas Lieblingsschwester Ottla, die sich gegen den Willen ihres Vaters und mit Kafkas Unterstützung emanzipierte, einen landwirtschaftlichen Beruf erlernte und einen Nicht-Juden heiratete. (weiteres siehe)
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