Kafka lesen: Auf der Galerie, neue textbegleitende Interpretation - Was aus meinen Träumen wurde

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Kafka lesen: Auf der Galerie (1916/17)
[Dieses kurze Prosastück besteht aus nur zwei langen Sätzen, die offenbar einen Gegensatz bilden. Dabei ist jedes Wort wichtig. Das beginnt mit dem Titel. Kafka könnte durch das nebenstehende Gemälde von Seurat zu seinem Werk inspiriert worden sein. Inhaltlich entspricht es ihm in vielen Einzelheiten. Warum nennt Kafka es dann aber nicht auch „Der Zirkus“, sondern „Auf der Galerie“, also was man bei Seurat ganz oben gerade noch sieht? Offenbar geht es ihm nicht in erster Linie um das Geschehen in der Manege, sondern um das, was auf der Galerie geschieht, um das Verhalten des jungen Mannes dort, der unterschiedlich auf das Geschehen im Ring reagiert.]

[Drucke zu Lebzeiten: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen (1920 [1917])] [siehe]
Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde,
[Der erste Satz ist eine Überlegung im Stile von Was wäre, wenn?“. Es handelt es sich um eine rationale Überlegung, bei der die Bedingungen für ein bestimmtes Handeln aufgezeigt werden. Konkret geht es um einen Fall von offenbarer Ausbeutung in einem Zirkus. Es ist ein Musterfall sozialer Anklage, was sich schon daran zeigt, dass es nicht um eine bestimmte Person geht, sondern um „irgendeine“ Artistin. Dabei wird die Situation als extrem empörend vorgestellt: eine kranke Frau, die vom Publikum und dem „peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef“ rundum getrieben wird. Wobei sich die Vorstellung mit dem „monatelang ohne Unterbrechung“  geradezu ins Irrationale steigert.]

auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend,
[Hier wird diese Steigerung wieder etwas zurückgenommen in Richtung auf die Wirklichkeit des Zirkus, wie wir sie kennen.]

und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind -
[Aber nur um sich dann nochmals zu steigern zu einer geradezu apokalyptischen Vision. Das „Spiel könnte anknüpfen an die Vorstellung des Spielerischen, die sich mit dem Zirkus verbindet. Im Hinblick auf die folgende Beschreibung lässt es aber eher denken an das grausame Spiel, das mit der Artistin getrieben wird. Am Ende sollte eigentlich eine klar erkennbare Situation stehen, die ein entsprechendes Handeln ermöglicht. Stattdessen vermischen sich die Dinge (wie die Musik des Orchesters und das Geräusch der Ventilatoren) und zerfließen in eine „graue Zukunft der Hoffnungslosigkeit. Schließlich ist das reflektierende Bewusstsein so verwirrt, dass es seine selbst ausgedachten Bedingungen mit der Wirklichkeit verwechselt und glaubt, dass die Hände tatsächlich Dampfhämmer „sind.]

vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, rief das;: Halt!! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.
[Eine Reaktion ist anscheinend am ehesten zu erwarten von einem jungen Besucher oben auf der Galerie. Aber der lange Weg bis in die Manege und die Fanfaren, die diese Störung zu übertönen suchen, lassen wenig Hoffnung aufkommen. Noch hoffnungsloser erscheint die Situation, wenn man den ersten Satz insgesamt kritisch-rational analysiert, in der Haltung, die durch die „Was wäre, wenn?-Struktur dieses Satzes nahegelegt wird. Dabei wird das „vielleicht am Anfang des Hauptsatzes wichtig. Wenn angesichts der angenommenen Situation extremer Ausbeutung und Unmenschlichkeit die Reaktion des Galeriebesuchers nur „vielleicht erfolgt, dann kann das nur als Ausdruck völliger Hoffnungslosigkeit verstanden werden. Welche noch schlimmere Situation müsste man sich denn vorstellen, damit Menschen zu einer Gegenreaktion aufgerüttelt würden?
Aber man kann den Text auch anders lesen. Lässt man sich tragen von der Intensität der Gefühle und der Betroffenheit des Galeriebesuchers gegenüber dem Schicksal der Zirkusartistin, angefangen von seinen fast schon sentimentalen Gefühlen („hinfällige, lungensüchtige) bis hin zu den geradezu apokalyptischen Visionen, dann kann das „vielleicht sogar zum Ausdruck einer großen Hoffnung werden (siehe).]

Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weißss und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen;;
[Wie dem auch sei, am Beginn des zweiten Satzes wird klar gesagt, dass es nicht so ist. Wobei unklar bleibt, was mit dem „so gemeint ist. Damit bleibt auch zunächst offen, wie es in Wirklichkeit ist. Das wird nun im Folgenden ausführlich beschrieben. Von der Satzstruktur her folgt eine lange Reihe von Nebensätzen (jeweils durch ein Semikolon abgetrennt), die eigentlich alle mit „da beginnen müssten und die den Grund angeben für die Reaktion des Galeriebesuchers am Ende. Aber dieses „da ist weggelassen und so erscheinen die einzelnen Sätze fast wie eine Folge selbständiger Beobachtungen. Nur die Endstellung des Verbs macht ihre Unterordnung als Nebensätze weiterhin deutlich (wenn man sie überhaupt noch bemerkt). Dabei lösen sich hier auch innerhalb eines Satzes die einzelnen Elemente in eine Folge von unabhängigen Einzelbeobachtungen auf. Zunächst zieht eine schöne Dame den Blick auf sich, dann fallen zwei Farben besonders ins Auge, wobei unklar bleibt, worauf sie sich beziehen. Dann richtet sich die Aufmerksamkeit auf das Hereinfliegen und erst danach wird registriert, was dem ganzen vorausging, die Vorhänge und das Öffnen durch die Livrierten. Dass diese „stolz genannt werden, ist ein erster kleiner Hinweis darauf, dass durchaus bewusst bleibt, dass es sich um eine Show mit viel falschem Schein handelt.]

der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet;; vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschliessßen kann, das Peitschenzeichen zu geben;;
[Das wird noch deutlicher in der Beschreibung des Direktors. Die Übertreibungen und das Show-mäßige in seinem Verhalten sind deutlich. Zugleich wird aber etwa mit dem Wort „vorsorglich in raffinierter Weise darauf hingewiesen, dass die Wirklichkeit hinter dem schönen Schein ganz anders sein könnte. Das erschließt sich durch eine sprachkritische Überlegung. Im Kontext des schönen Scheins müsste hier eigentlich „fürsorglich stehen. Das kann man leicht überlesen, da die Bedeutung ja auch nicht so sehr abweicht. Aber „vorsorglich gebraucht man bei Maßnahmen, die ein Problem in der Zukunft verhindern sollen. Vielleicht ist der Direktor besorgt, dass die Artistin im letzten Moment Angst bekommt oder sogar gegen ihre Behandlung protestiert. Das ist nur angedeutet, nicht weitergedacht, aber die mögliche Doppelbödigkeit des Ganzen bleibt im Bewusstsein.]

schliessßlich in Selbstüberwindung es knallend gibt;; neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft;; die Sprünge der Reiterin scharfen Blickes verfolgt;; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann;; mit englischen Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden Reitknechte wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem grossßen Saltomortale das Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge schweigen;;
[Auch wenn der Direktor das Peitschenzeichen „knallend gibt, spürt man den Gegensatz zu seiner gespielten „Selbstüberwindung. Wie schon zuvor fehlt auch in den folgenden Sätzen das Subjekt, nicht einmal durch ein „er wird auf den Direktor hingewiesen. So verselbständigen sich auch hier die einzelnen Beobachtungen, vieles bleibt in der Schwebe, der logische Rahmen tritt zurück. Auch hier wird die mögliche Doppelbödigkeit angedeutet durch Ausdrücke wie „scharfen Blickes verfolgt, „mit englischen Ausrufen oder „wütend.]

schließsslich die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide Backen küssßt und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußßspitzen, vom Staub umweht, mit ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will -
[Hier erreicht das Geschehen in der Manege und damit auch die Begeisterung des Publikums den Höhepunkt. Nur der „Staub trübt etwas das schöne Schlussbild von der Künstlerin, die ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will. Wie ist da die Reaktion des Galeriebesuchers zu verstehen?]

da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlussmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.
[Durch das Anhängen des vorhergehenden Satzes mit „während ist die logische Struktur des gesamten zweiten Satzes noch weiter zurückgetreten. Da hilft es auch nicht, dass nun das durchgehend ausgelassene „da noch einmal wieder aufgenommen wird. Besonders auch, weil unklar bleibt, worauf sich sowohl das „dies wie auch das „so beziehen. Vielleicht kann man sagen: Dies, was sich im einzelnen beobachten ließ, ist eben so, wie es ist. Mehr kann man dazu nicht sagen.
Die Haltung im zweiten Satz ist gekennzeichnet durch Annehmen der Wirklichkeit so wie sie ist, und durch ein passives Aufnehmen der Bilder, die sich impressionistisch, ohne logische Verknüpfung aneinanderreihen. Mögliche Widersprüche zum schönen Schein des Zirkus werden durchaus erahnt und erspürt, bleiben aber in der Schwebe. Auch das Weinen am Ende bleibt in seinen negativen oder positiven Implikationen unbestimmt, es zeigt ein tiefes, emotional bestimmtes Verhältnis zur Wirklichkeit, das aber in seiner Unbestimmtheit keine Grundlage bilden kann für verantwortliches Handeln. Der Galeriebesucher nimmt die Phänomene als ganze in sich auf, spürt intuitiv ihre Vielschichtigkeit und ist so der Wirklichkeit ganz nahe, doch zugleich verliert er das Bewusstsein seiner selbst und damit die Möglichkeit zum Handeln.]
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