Kafa lesen: Prometheus, neue textbegleitende Interpretation - Was aus meinen Träumen wurde

Direkt zum Seiteninhalt
.


Theo Rombouts (1597-1637) - Prometheus
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Theodoor_Rombouts_(1597-1637)_-_Prometheus_-_KMSK_Brussel_25-02-2011_12-45-49.jpg
Kafka lesen: Prometheus (1918) [ausführlicher dazu: deutsch/englisch]

[Nachgelassene Schriften und Fragmente II: [2] [“Oktavheft G”] (1918):] [siehe]
Von Prometheus berichten vier Sagen.
[Kafka hat diesem Stück keinen Titel gegeben, aber der ergibt sich ja unmittelbar aus den ersten Worten. Der Mythos oder die Sage von Prometheus ist ein beliebtes literarisches Motiv seit der Antike. Es gibt verschiedene Fassungen der Sage, die sich aber nur durch Zusätze und Erweiterungen unterscheiden. Wieso spricht Kafka also von vier Sagen? Wenn man diese sorgfältig untersucht, was wir im Folgenden tun wollen, und dabei aber nur kritisch-rational argumentiert, wie es manche Interpreten tun, dann stellt man lediglich eine Reihe von Widersprüchen zwischen den vier Versionen fest, die dann so verstanden werden, dass hier das klassische Motiv deformiert und aufgelöst werde, was zu Desorientierung führe statt des Aufscheinens von Wahrheit im Mythos. Denkt man an die beiden von Kafka in Auf der Galerie beschriebenen Haltungen, dann ähnelt eine solche Interpretation der Haltung im ersten Teil, die zumindest ergänzt werden muss durch die Haltung im zweiten Teil, um der Wahrheit näher zu kommen. Das soll nun versucht werden.]

Nach der ersten wurde er weil er die Götter an die Menschen verraten hatte am Kaukasus festgeschmiedet und die Götter schickten Adler, die von seiner immer nachwachsenden Leber frassen.
[Die erste Sage folgt weitgehend der Tradition, allerdings mit Unterschieden. Der Wichtigste ist der, dass bei Kafka nur die Bestrafung des Prometheus beschrieben wird. Das, was sonst im Mittelpunkt steht, seine Taten, sein Eintreten für die Menschen gegen die Götter, fehlt gänzlich und wird nur negativ als Verrat angesprochen. Das steht in krassem Gegensatz zu Goethes bekanntem gleichnamigem Gedicht, wo die Verhältnisse genau umgekehrt sind. Bei Goethe wird die Strafe überhaupt nicht erwähnt.
Der Satz ist klar gegliedert. Die Zuordnung der handelnden Subjekte wird schon durch diese Gliederung deutlich. Prometheus und die Götter stehen sich gegenüber als die Subjekte der beiden Hauptsätze, ersterer bezeichnenderweise im Passiv. Nur im Nebensatz ist er aktives Subjekt allerdings einer negativ bewerteten Handlung. Die Adler (in der klassischen Tradition ist es einer) sind Subjekt eines Nebensatzes, entsprechend ihrer Unterordnung unter die Götter. Beschrieben wird ein dramatischer Prozess von Verrat und Vergeltung, wobei letzterer zeitlich unbegrenzt scheint, wie das immer andeutet. Das entspricht der klassischen Tradition, die allerdings in zwei Versionen auch ein Ende von Prometheus' Qualen kennt.]

Nach der zweiten drückte sich Prometheus im Schmerz vor den zuhackenden Schnäbeln immer tiefer in den Felsen bis er mit ihm eins wurde.
[Um dieses Ende geht es  auch in Kafkas zweiter Sage, allerdings in einer Form, die die klassische Tradition nicht kennt. Man kann hier einen Widerspruch zu dem immer in der ersten Sage sehen und damit in der zweiten eine andere Sage, die mit der ersten unvereinbar ist. Allerdings hat Kafka es in der ersten Sage vermieden, das immer eindeutig auf die Strafe zu beziehen, was deren unbegrenzten Fortgang bedeuten würde. Daher kann man, wenn man sich von der Vorstellung löst, dass es sich bei der zweiten um eine andere Prometheussage handelt, diese zweite durchaus als nächste Stufe einer fortlaufenden Entwicklung verstehen. Sie schildert die Reaktion des Prometheus auf das grausame Geschehen. Hier wird er nun aktiv, aber  so, dass dies in der extremen Passivität der Versteinerung endet.]

Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein Verrat vergessen, die Götter vergassßen, die Adler, er selbst.
[Hier geht die Geschichte weiter. Jedenfalls, wenn man der Bewegung der Erzählung folgt und nicht den Widerspruch herausstellt, dass der zu Stein gewordene hier noch als er selbst” in Erscheinung tritt. Mit einem bei Kafka häufigeren Zeitraffer überblicken wir nun Jahrtausende, in denen alles in einem allgemeinen Vergessen endet. Auch die drei Akteure, die sich in der ersten Sage in einem dramatischen Geschehen gegenüberstanden, sind nun vereint in diesem Vergessen.]

Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden müde, die Adler. Die Wunde schloss sich müde.
[In der vierten Sage schließlich endet alles in einer allgemeinen Müdigkeit, wobei Prometheus schon gar nicht mehr erwähnt wird. Nur noch die Wunde hat überlebt. Hier ist besonders deutlich der Kontrast zu Goethes Gedicht, das am Ende Zeus die herausfordernden Worte entgegenschleudert: Und Dein nicht zu achten, Wie ich!” Bei Goethe steht am Ende das selbstbewusste Ich. Was bleibt bei Kafka?]

Blieb das unerklärliche Felsgebirge.
[Auch hier könnte der Kontrast zu Goethe kaum größer sein. Aber was bedeutet dieser kurze Satz? Durch das Bliebam Anfang erscheint die Zuordnung des Satzes eigentümlich unbestimmt, was von Kafka beabsichtigt sein dürfte. Folgt man der Bewegung des Textes, so scheint es sich um den Endpunkt einer Entwicklung zu handeln, die damit abgeschlossen ist, ohne das der Satz Teil der Sage(n) wird. Vielmehr verweist er auf das einzige reale Element der Sage, den Kaukasus, an den Prometheus geschmiedet wurde. Dann hätte der Satz eigentlich beginnen müssen mit „Was blieb, war” oder zumindest „Es blieb”. So aber kann man das „Blieb” auch verstehen im Sinne von „Bliebe” unter Weglassung des „e” oder eines Apostrophs. Dann treten wir heraus aus der Schilderung der Sage in der Vergangenheitsform und konzentrieren uns auf ein gegenwärtiges Problem etwa in dem Sinne: Wenn somit alle Akteure der Sage verschwunden sind, dann bliebe als unerklärlich allein das Felsgebirge.
Damit kommen wir aber zu den beiden letzten Sätzen des Textes. Kafka hat diese auch zuletzt geschrieben, wollte sie aber wohl dem Text voranstellen. Hier wurde die Reihenfolge wie in der posthumen Veröffentlichung gewählt, weil das für die fortlaufende Interpretation günstiger schien.]

Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären; da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muss sie wieder im Unerklärlichen enden.
[Beide Sätze sind durch das Semikolon eng an einander gebunden. Durch den Zusammenhang zwischen „Fels” und „Grund”  sowie das doppelte  „Unerklärliche” wird das „unerklärliche Felsgebirge” am Ende der Sagenerzählung zu einer konkreten Erscheinungsform des Wahrheitsgrundes, der offenbar mit dem Unerklärlichen gleichgesetzt wird. Am Anfang steht das „unerklärliche Felsgebirge”, der „Wahrheitsgrund”. Aus diesem entsteht die Sage. Ihr Versuch, das Unerklärliche zu erklären, kann nur wieder auf das Unerklärliche zurückweisen. Sie muss „wieder im Unerklärlichen enden”.
Dies letztere ist der Vorgang, den Kafka in den vier Sagen beschreibt. Er ist negativ, insofern alles Individuelle, alle Aktivitäten, alles rational und in seinen Beziehungen Erfassbare allmählich verlöscht und wieder in dem unerklärlichen Felsgebirge endet. Da dieses aber zugleich der Wahrheitsgrund ist, kann man den Vorgang auch positiv sehen: Der Prozess der Reduzierung führt nicht zu völliger Auflösung, vielmehr wird etwas sichtbar, das als geradezu unzerstörbar und zeitlos erscheint, das am Ende bleibt als das, was es immer war.
Kultur- und insbesondere religionsgeschichtlich könnte man sagen, dass Kafka zurückweist auf eine prä-mythische Zeit, in der der Anblick gewaltiger Berge, uralter Bäume und anderer ungewöhnlicher Naturphänomene (vgl. auch) die Menschen mit ehrfürchtigem Schauder erfüllte. Mythen und Sagen entstanden als man begann, über diese Phänomene nachzudenken und sie einzuordnen. Typisch sind die ätiologischen Sagen, die den Ursprung ungewöhnlicher Namen, Erscheinungen oder Ereignisse zu erklären versuchen. (Vielleicht verwendet Kafka deshalb auch lieber den Begriff „Sage”.)
Zurück zum Seiteninhalt