Steinzeitträume - Was aus meinen Träumen wurde

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Träume: wie es begann
Als Junge träumte ich von einer großen vollautomatischen Eisenbahnanlage. Daraus geworden ist die Automatisierung meines Hauses, die immerhin eine Fernsteuerung während längerer Abwesenheit möglich und das Leben im Alter bequemer macht. Der Traum vom Bau einer Hochseeyacht musste reduziert werden auf den eines Katamarans für gelegentliche Freizeitvergnügen, die dann auch schnell endeten, als der Umzug nach Japan anstand. Immerhin, dass mein größter Traum, der von östlicher Kultur und Spiritualität, mich nicht wie anfangs gedacht nach Indien, sondern nach Japan führte, wusste ich schnell als positive Wendung zu schätzen.
Und dass ich dann mitten in der größten Metropole der Welt der Steinzeit begegnen und dass diese immer mehr Raum in meinem Denken und meinen Träumen einnehmen würde, erscheint mir bis heute wie ein Traum. Um das zu erklären, muss ich eine - meine - kleine Geschichte erzählen. Sie beginnt an einem ungewöhnlichen Ort, wie ihn die folgende Luftaufnahme von Tokyo zeigt.
Bis an den oberen Bildrand dehnen sich die schier endlosen Häusermassen der 30-Millionen Metropole Richtung Osten. Schemenhaft heben sich aus dem Dunst die Kulissen der Wolkenkratzer ab, den Pazifischen Ozean dahinter kann man nur noch erahnen. Der Vordergrund dagegen, dessentwegen die Aufnahme gemacht wurde, wirkt wie eine große grüne Oase in dem Häusermeer, teilweise dicht bewaldet, teilweise parkartig und mit nur wenig Bebauung. In einem der Häuser in dem am dichtesten bewaldeten Gebiet habe ich einen Großteil meines Lebens verbracht. Es liegt auf dem Gelände einer Universität, an die ich, wie ich rückblickend sagen muss, durch besonders glückliche Umstände gelangt war.
Gleich bei meinem ersten Besuch auf dem weiten Gelände wurde mir eine Stelle gezeigt, wo man gerade wieder einmal Spuren steinzeitlicher Besiedlung ausgegraben hatte. Von Studierenden erfuhr ich, wie beliebt die Kurse in Archäologie waren, weil man die einmalige Chance hatte, neben der Theorie auch die Praxis kennenzulernen und direkt bei Ausgrabungen mitzumachen. Wegen der großen Menge von Funden konnten alle Kursteilnehmer sicher sein, jede/r auch einen eigenen Fund auszugraben. Später sah ich das große Lagerhaus, in dem sich schnell mehr als 10.000 Fundstücke angesammelt hatten.
Die ungewöhnliche Reichhaltigkeit der Funde, so wurde mir erklärt, beruhe einerseits darauf, dass das gesamte Gelände Jahrhunderte lang bewaldet geblieben war und unter anderem von den Shogunen zur Falkenjagd genutzt wurde. Daher auch der Name der jetzt in Tokyo eingemeindeten Stadt: Mitaka (Drei Falken). Auch in den Jahrtausenden davor gab es seit der Steinzeit wohl kaum Veränderungen.
Den zweiten Grund erfährt man beim Blick auf das obige Bild. Auf beiden Seiten des kleinen Flusses (des Nogawa), den man auf dem Bild an den Brücken erkennt, hat man ungewöhnlich viele Spuren steinzeitlicher Siedlungen gefunden. Das Gelände der Universität liegt auf einer Ebene etwa 20 m oberhalb des Flussniveaus. Der Abfall dahin ist relativ steil, erkennbar als Bogen entlang des Flusses. Viele der Siedlungen lagen in den noch ganz wie früher bewaldeten Gebieten oberhalb des Flusses, mitten darin unserHaus. Auch anderswo in Japan gibt es nicht oft so reichhaltige Funde aus der Steinzeit wie hier.
Als ich bald darauf auf dem Campus lebte, faszinierte mich vor allem die Vorstellung, an einer Stelle zu wohnen, wo schon vor zehntausend und mehr Jahren Menschen gelebt hatten in einer, zumindest in der Nähe des Hauses, seit damals kaum veränderten Umgebung. Auf meinen Spaziergängen versuchte ich mir vorzustellen, wie das Leben in der Steinzeit ausgesehen haben könnte. Die Wohnlage war damals sicher ähnlich gut wie heute. Oberhalb des Abhangs war man geschützt vor Überschwemmungen, war aber schnell unten am Fluss. Der für mich besonders wichtige Pluspunkt der Wohnlage, die prächtige Aussicht über eine weite Ebene auf den Fuji, was mag er den Menschen damals bedeutet haben? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Schönheit dieses Anblicks sie nicht beeindruckt hat, gemischt mit Gefühlen religiöser Ehrfurcht, wie man sie auch heute beim Anblick des Fuji gut nachempfinden kann. Jedenfalls sollten diese Sammler und Jäger damals auch Zeiten der Muße und Entspannung gekannt haben, wenn sie - so stellte ich mir vor - reichlich Früchte von den Bäumen oben gesammelt und Fische aus dem Fluss unten gefangen hatten. Zudem gab es am Fuß des Abhangs mehre klare Quellen, die ständig sprudelten und kleine Teiche mit seltenen Pflanzen, Fischen und Insekten speisten. Selbst heute im modernen Tokyo konnte man ich in dem völlig naturbelassenen Urwald entlang des Abhangs gelegentlich etwa einen Eisvogel, einen Reiher oder sogar ein Adlerpaar mit seinen Jungen entdecken. Fast entstand so in meiner Phantasie ein kleines Paradies, in dem natürlich andere Dinge wie Krankheiten, Hungersnöte und die oft harten klimatischen Bedingungen damals fehlten, vor allem auch die Naturkatastrophen, die Japan auch heute noch regelmäßig heimsuchen. Und wenn ich auch nur an so banale Dinge denke wie, dass wir den ganzen Sommer über wegen der Mücken unsere Terrasse kaum nutzen konnten und dass in einem Sommer sogar Lebensgefahr für unsere Kinder außerhalb des Hauses bestand durch einen Hornissenschwarm, der sich an unserem Haus ein riesiges Nest gebaut hatte, dann bleibt man wohl doch lieber in der Jetztzeit.
Die Funde aus der Steinzeit interessierten mich anfangs weniger. Ihre schiere Masse ließ die einzelnen Fundstücke als weniger bedeutend erscheinen, und die meisten von ihnen waren auch nicht so beeindruckend. Meist waren es kleine Bruchstücke von Tongefäßen, einfache handliche Steine zum Schaben, Stampfen, Schneiden usw., seltener Pfeilspitzen oder andere scharfkantige Abschläge von Obsidian. Eindrucksvoller waren im Museum die restaurierten Tongefäße und einige wenige vermutlich kultische Gegenstände wie ein fast 80 cm langer, allerdings zerbrochener, Phallus.
Die Funde lagen, wie man auf dem obigen Bild sieht, gewöhnlich mindestens in einer Tiefe von etwa einem Meter unter einer dunklen Humusschicht in einer hellbraunen weichen Lehmschicht, die sich aus vulkanischer Asche bis vor etwa zehntausend Jahren gebildet hatte. Auf unserem Grundstück würde ich also selbst bei Gartenarbeiten nicht mit Steinzeitfunden in Berührung kommen. Sicherheitshalber hielt ich mich aber auch an die Empfehlung der Universität, tiefere Grabungen möglichst zu vermeiden. So geschah auch viele Jahre lang nichts bis kurz vor dem Ende meiner Zeit an der Universität.
Das Bild links zeigt den Blick von unserer Terrasse in das Gelände hinter dem Haus. Den Versuch, dort so etwas wie einen Garten anzulegen, hatten wir wegen der üppigen Vegetation, der Mücken und der kaum erträglichen Hitze im Sommer bald aufgegeben. Dafür gelang es uns, unseren Weihnachtsbaum über Jahre im Garten am Leben zu halten und immer wieder zu benutzen, bis er zu groß wurde. Auf dem Bild kann man ihn links sehen. Und damit beginnt der Wendepunkt in meiner Geschichte.
Als ich den Baum wieder einpflanzen und dabei das Loch noch etwas größer und tiefer machen wollte, stieß ich mit dem Spaten auf einen Stein. Ich stoppte mit dem Graben und versuchte sicherheitshalber mit den Händen im Boden vorsichtig herauszufinden, wie groß der Stein war. Zu meinem Erstaunen kam ein etwa 30 x 20 cm großer Stein zum Vorschein. Da er nur circa 20 cm unter der Oberfläche lag (siehe die Fundstelle links),
das Material nicht ungewöhnlich war und auch wegen seiner Größe verwarf ich die kurz in meiner Phantasie auftauchende Möglichkeit einer Verbindung zur Steinzeit und wollte den Stein schon entsorgen. Da fiel mir seine ungewöhnliche Gestalt auf. Er sah tatsächlich aus wie eine große Steinaxt. Besonders auffällig die gerade Kante, die geradezu optimal geignet ist, um auch mit einfachen Mitteln einen Stiel zu befestigen.
Das nächste Foto zeigt einen entsprechenden Versuch von mir. Kann die Form dieses Steines Zufall sein? Nach wie vor bleibt er mir ein Rätsel, dessen Lösung ich irgendwann zu finden hoffe.
Jedenfalls war mein Interesse jetzt geweckt. Um zu verhindern, wieder beim Graben auf einen Stein zu stoßen (eine Kante bei der „Axt hatte ich so beschädigt), wollte ich nun den Boden in der Nähe von eventuell nötigen Grabungen vorher untersuchen. Dazu besorgte ich mir einen 45 cm langen Schraubenzieher, den ich bis zum Heft vorsichtig in den Boden drückte. Wenn ich auf etwas Hartes stieß, grub ich ein schmales Loch möglichst nur mit den Händen und versuchte den harten Gegenstand zu erfühlen. Oft konnte ich dabei auch weitere Gegenstände in der Nähe ertasten. So entstanden meine ersten Fundstellen. Wegen der geringen Tiefe der Funde und weil viele auch einfach Bauschutt sein konnten (wie ich ihn in größerer Menge an anderer Stelle auf dem Gelände fand) oder weil die Steine auf natürliche Weise in den Boden gelangt sein konnten, aus all diesen Gründen konnte ich mir nicht vorstellen, dass es sich um Steinzeitfunde handelte, obwohl meine Phantasie mich dazu drängte. Sicherheitshalber begann ich aber schon bald, die Funde zu katalogisieren und mit Notizen zu versehen.
So entstand langsam eine kleine Steinsammlung mit einigen interessanten Exemplaren. Dann geschah etwas, das irgendwie so wunderbar war, dass ich mich noch an jede Einzelheit erinnere. Ich las eine kurze Notiz in einer deutschen Zeitung von einem Deutschen, der in Afrika in einem Flussbett eine merkwürdige Steinfigur gefunden hatte. Als er sie in Deutschland untersuchen ließ, stellte sich heraus, dass es die älteste steinzeitliche Kultfigur war, die man dort jemals gefunden hatte. Wenn du so etwas finden könntest, begann ich zu träumen. Nicht nur die üblichen Gebrauchsgegenstände, sondern etwas, das Auskunft gibt über die geistige Welt der damaligen Menschen, ihren Glauben, ihre Träume, ihre künstlerischen Phantasien. Denn dass sie so etwas besaßen, dafür gibt es ja schon sehr frühe Zeugnisse. Plötzlich spürte ich große Lust, im Boden zu suchen und ging nach draußen. In der Nähe des Weihnachtsbaums stieß ich dabei im Boden auf etwas Hartes. Irgendwie hatte ich das Gefühl, diesmal muss es etwas Besonderes sein. Auch als ich den kleinen unscheinbaren Stein in der Hand hielt, hatte ich weiterhin dieses Gefühl.
Und tatsächlich, kaum hatte ich die lehmige Schicht auf der Oberfläche abgewaschen, entdeckte ich eine Vielzahl von Gesichtern. Meine Frau lachte, als ich ihr das begeistert erzählte, aber dann begann sie, mit mir die Gesichter zu zählen, und wir kamen auf über ein Dutzend. Und die Oberfläche des Steins war deutlich abgegriffen von vielen Händen. [mehr zu dem Stein] Alle Zweifel an der Echtheit meiner Funde hin und her, jetzt war ich überzeugt, eine Art Talisman, einen magischen Stein in den Händen zu halten, wie vor zehntausend und mehr Jahren vielleicht viele tausende von Menschen der Steinzeit, die sich davon eine heilsame und glückbringende Wirkung erhofften. Plötzlich fühlte ich mich diesen Menschen ganz nahe, glaubte wie sie etwas von der magischen Kraft dieses Steines zu spüren.

Angeregt durch weitere interessante Funde, versuchte ich nun auch, mehr Hintergrundinformationen zu meinen Steinen zu bekommen, vor allem in den Berichten zu den bisherigen Ausgrabungen auf dem Campus. Dort wurde erwähnt, dass in der Nähe des Abhangs manche Funde näher an der Oberfläche lagen, weil, wohl besonders bei stärkeren Regenfällen, ein Teil der Humusschicht darüber abgetragen wurde. Nun lagen meine Fundstellen ja alle nahe an dem Abhang, der zudem an dieser Stelle eingebuchtet war, sodass dort wohl besonders viel Wasser von der Hochfläche heruntergeflossen war in den Fluss, und das über tausende von Jahren. So war es erklärlich, dass hinter unserem Haus die Lehmschicht mit den Steinzeitfunden nur etwa 40 cm tief lag. Damit entfiel ein wichtiges Argument gegen die Zuordnung meiner Funde zur Steinzeit.
Bei den Tonscherben und allen Steinen mit Gebrauchs- oder Bearbeitungsspuren war somit die Zuordnung für mich eindeutig. Der Großteil meiner Funde schien mir jedoch deswegen interessant, weil er besonders geformt war, aber eben natürlich, und also keine Bearbeitungsspuren aufwies. Woher konnte man daher wissen, dass diese Steine von Menschen der Steinzeit benutzt wurden? Hier kommt für mich ein Begriff aus der angelsächsischen Archäologie ins Spiel, die manuports, also Gegenstände, die im wörtlichen Sinne mit der Hand von Ort zu Ort getragen wurden. Wenn man Steine findet an Orten, wo sie natürlicherweise nicht vorkommen können und die von Menschen besiedelt waren, dann können nur diese sie dorthin gebracht haben. Da Steine schwer sind und die Menschen lange Zeit noch nicht sesshaft waren, wird man mit Sicherheit nur solche Steine transportiert haben, die besonders wichtig waren. Das gilt natürlich vor allem für große Steine.
Ein ganz besonders eindrucksvolles Beispiel für einen solchen Stein fand ich wenige Monate vor dem Ende meiner Tätigkeit an der Universität. Auf dem Bild weiter oben fällt der Blick von der Terrasse auf einen gelb blühenden Strauch im Hintergrund. Ich wollte diesem etwas mehr Platz zum Ausbreiten verschaffen und prüfte vorsichtig den Boden unter dem Strauch. Dabei stieß ich kurz unter der Oberfläche bereits auf mehrere große Steine.
Es wurde der bemerkenswerteste Stein in meiner Sammlung, den ich als mögliches ,Idol' zu kennzeichnen suche. Egal, was seine genaue Bedeutung für die Menschen der Steinzeit war, die Tatsache, dass er derart sorgsam geschützt wurde und so die Jahrtausende überdauerte, spricht dafür, dass er ihnen sehr wichtig, vielleicht sogar so etwas wie heilig war, wie wir es ja auch von den Steinkulten kennen.
Ursprünglich hatte ich gehofft, über meine Funde mit Archäologen in Japan zu diskutieren. Dazu hätte ich sie zunächst einigermaßen sichten, ordnen und mit den nötigen Informationen versehen müssen. Aber weil ich die letzten Jahre an der Universität, buchstäblich bis zum letzten Tag, mit der Durchführung eines großen Projekts der Studienreform beauftragt war, kam es nicht dazu. So konnte ich die Funde nur meinem Kollegen in der Archäologie zeigen, der sie in ihrem damaligen Zustand für nicht so wichtig hielt. So verständigten wir uns darauf, dass ich den Großteil der Funde mit nach Deutschland nehmen und zunächst einmal sichten und ordnen sollte. Das ist mir nun endlich mit der Veröffentlichung hier auf meiner Webseite hoffentlich einigermaßen gelungen, sodass die einzelnen Funde nun besser bewertet und eingeordnet werden können. Meine Hoffnung ist, dass ihre Bedeutung anerkannt wird und sie ihren gebührenden Platz am besten im Museum meiner ehemaligen Universität finden. Noch schöner wäre es, wenn das dazu führen würde, dass das Gelände um die Fundstellen fachgerecht von Archäologen untersucht würde und dabei vielleicht so etwas wie ein steinzeitliches Kultzentrum ausgegraben würde. Aber hier beginnen schon wieder meine Steinzeitträume, denen ich in einem zusätzlichen Abschnitt noch etwas nachhängen möchte.

* Alle Angaben hier  zu den archäologischen Funden entspechen den Tatsachen, soweit sie mir bekannt sind. Die biographischen Ausführungen dienen vor allem als Rahmen und verbindende Elemente und sind daher teilweise vereinfacht oder verändert.

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