Japan und der Exotismus in der deutschen Literatur - Was aus meinen Träumen wurde

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Japan und der Exotismus in der deutschen Literatur um 1910-1920
in: Doitsugoen Kenkyū 24, 2007, S. 43-54
Gerhard Schepers

Auch heute noch wird das Bild Japans in Deutschland vielfach von Klischees und Stereoptypen bestimmt, die vom Exotismus geprägt sind. Man sollte meinen, daß die Fülle von Informationen über das moderne Japan diese allmählich verschwinden ließe, aber exotistische Träume (oder auch Ängste) orientieren sich kaum an der Wirklichkeit. Das zeigt sich auch, wenn man die Geschichte des Exotismus im Hinblick auf Japan untersucht. In den zahllosen Berichten von Europäern über das Land finden sich bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts nur wenige Elemente, die man dem Exotismus zuordnen kann. Für Deutschland ändert sich das erst am Beginn des 20. Jahrhunderts, vor allem unter dem Einfluß Lafcadio Hearns, der in seinen in Deutschland viel gelesenen Werken ein Japan beschwor, wie er es sich im Gegensatz zu der auch im damaligen Japan rasch fortschreitenden Modernisierung erträumte. Ihren kurzen Höhepunkt erreichte die vom Exotismus geprägte Japanbegeisterung in Deutschland gerade zu einer Zeit, als die Beziehungen zwischen beiden Ländern auf einem Tiefpunkt angelangt waren und es in Tsingtau 1914 sogar zu einer kriegerischen Auseinandersetzung kam.1

1. Exotismus
Um diese Zusammenhänge zu verstehen und richtig einzuordnen, ist es wichtig zu erkennen, wo die Wurzeln des Exotismus liegen, nämlich in der Auflehnung gegen die fortschreitende Technisierung und Rationalisierung des modernen Lebens, wie Hermann Pollig betont:

Die gegenwärtige, nicht aufzuhaltende, als Bedrohung empfundene Technisierung und Rationalisierung des Lebens, die strenge Logik der Naturwissenschaften, die fortschreitende Undurchsichtigkeit vielschichtiger Beziehungsfelder evoziert geradezu Kompensationen der Psyche. [...] Die empfundene Sinnkrise führt zu einer Flucht in die Irrationalität einer imaginären Gegenwelt aus paradiesischen und obsessionalen Wunsch- und Tagträumen. Das Fliehen in den Exotismus ist eine der Möglichkeiten, das psychische Gleichgewicht auf der Suche nach der Harmonie mit dem Dasein zu erlangen. (1987: 16)

Ähnlich faßt Linus Hauser zusammen:

So können wir festhalten, daß im Zeitalter der wissenschaftlichen Technik der Exot, der vorwissenschaftliche, ja vorzeitliche Harmonie mit der Natur repräsentiert, als sittliches Leitbild einer gerade hochtechnischen Epoche vorgestellt wird. Natürlichkeit, Spontaneität, glückliche Harmonie mit sich und der Welt sind Sehnsüchte, die einer hochtechnischen Gesellschaft als ausgeblendete Lebensmöglichkeiten erscheinen. (1987: 41)

Das führt zu Eskapismus und oft sogar zur gänzlichen Ablehnung der eigenen Kultur. Etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs die Zahl der Künstler und Intellektuellen, die sich von der europäischen Kultur abwandten oder diese zumindest immer kritischer sahen und die sich imaginäre exotische Gegenwelten schufen aus tatsächlichen oder nur vorgestellten Elementen fremder Kulturen, auf die sie ihre eigenen Wünsche und Träume projizierten. Nach Tahiti, Indien und China richtete sich dabei der Blick in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend auch auf Japan. Wichtige Anlässe dazu waren die Weltausstellungen von 1862 in London und 1867 in Paris und die damit einsetzende Welle des Japonismus. Es folgten Pierre Lotis Madame Chrysanthème (1887) und dann vor allem die Werke von Lafcadio Hearn in dem Jahrzehnt bis zu seinem Tod 1904. Trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Enttäuschungen und negativen Erfahrungen auch in Japan schuf Hearn, ganz im Geiste des Exotismus, ein romantisches Bild des „Alten Japan“, das dem entsprach, was er sich, wie viele seiner Zeitgenossen in Europa, erträumt hatte.2 Der Einfluß seiner Schriften in Deutschland zeigt sich schon bald in der Literatur der Zeit unmittelbar vor bis nach dem Ersten Weltkrieg.
Dem Versuch, eine Gegenwelt zur eigenen, negativ erfahrenen Welt zu schaffen, entspricht es, daß dabei häufig mit Gegensatzpaaren operiert wird. Ein gutes Beispiel dafür ist die folgende Tabelle. Sie versucht, die entsprechenden Ideen von Hermann Graf Keyserling, einem der Autoren, die hier behandelt werden sollen, zusammenzufassen.


The comparative psychic traits of East and West noted by Count Keyserling in The Travel Diary of a Philosopher may be conveniently listed in parallel columns.        
EAST                     WEST                      EAST                      WEST
Contemplative        Active                      Weak                      Strong                 
Placid                    Restless                    Passive                   Aggressive
Gentle                   Rough                      Negative                 Positive               
Courteous              Sincere                     Feminine                 Masculine    
Patient                   Impatient                 Submissive              Masterful         
Quietistic               Bustling                    Onlookers               Participators        
Thinkers                 Doers                       Mystical                  Realistic           
Introspective           Objective                 Apathetic                Ambitious
Conservative           Progressive               Traditional              Liberal
Communalistic         Individualistic           Drifters                   Purposeful          
Imitative                 Initiative                  Profound                 Superficial           
Philosophical           Practical                  Mythological            Scientific
Religious                 Ethical                     Pessimistic               Optimistic           
Heteronomous         Autonomous             Authoritarian           Self-determinative
(Gulick 1963: 122)            
Die Tabelle zeigt, wie willkürlich  in diesem Diskurs mit Gegensätzen gearbeitet wird, die pauschal auf „den Westen“ und „den Osten“ übertragen werden. Dabei ließen sich viele je nach regionalem, geschichtlichem oder sozialem Hintergrund des Phänomens auch genau umgekehrt definieren. Das gilt erst recht für den eigenen Standpunkt, von dem aus die Bewertung erfolgt. Vom Standpunkt des europäischen Kulturpessimus aus - der die Grundlage für die Asienbegeisterung und den Exotismus in Europa bildet – erscheint „der Osten“ positiv und optimistisch, und viele andere „Gegensätze“ verschieben sich entsprechend. Keyserling selbst schreibt: „Ich kann hier schwer objektiv urteilen, weil mir am Europäer hauptsächlich auffällt, was ihm fehlt, und am Asiaten, was ihn vorteilhaft auszeichnet.“ (1918/1956: 430) Insofern fragt sich auch, ob die obige Gegenüberstellung Keyserlings Gedanken im Einzelnen angemessen wiedergibt. Wichtig ist hier aber vor allem, dass die Tabelle die Tendenz verdeutlicht, Unterschiede zwischen Asien und Europa in ein Schema zu pressen und dabei mit Gegensatzpaaren zu arbeiten, die ihren Ursprung in den eigenen Wertekategorien haben und das jeweils Andere als Gegensatz dazu konstruieren. Bis in die Nihonjinron [Japanerdiskurse] der letzten Jahrzehnte findet sich diese Tendenz, wobei häufig die gleichen Gegensatzpaare auftauchen.

2. Exotistische Japanbilder in der deutschen Literatur um 1910-1920
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in Deutschland eine ganze Reihe von Schriftstellern, die sich für die neuen ästhetischen Möglichkeiten interessierten, die die japanische Kultur zu bieten schien. Man kann hier Autoren nennen wie Hugo von Hoffmannsthal (der ein Vorwort zu Hearns Kokoro schrieb), Klabund, Rainer Maria Rilke, Bertold Brecht und vielleicht Stefan George (Yasui und Mehl 1987: 77-85). Stärkere exotistische Tendenzen finden sich aber nur bei einigen heute weniger bekannten Autoren, die hier nun vorgestellt werden sollen.

Dauthendey
Die Tatsache, dass Max Dauthendey (1867-1918) ursprünglich Maler werden wollte, prägt auch sein Verhältnis zu Japan. Was ihn zunächst faszinierte, war die japanische Kunst, besonders die Malerei. Als er dann auf einer Weltreise 1906 die Gelegenheit hatte, Japan zu besuchen, beschreibt er das Land in seinen ersten Eindrücken so, wie er es aus der japanischen Malerei kannte, etwa bei seiner Ankunft in Nagasaki:

Mit schwarzer Tusche auf weißes Silber gemalt, erschien der Schwarzkiefern Gestalt [...] Wie japanische Malereien auf Porzellan oder Seide. Und wie auf weißem Papier bemalte sich mehr und mehr die dunkle Inselwelt im Nebel hier. Sie zeigte winzige grüne Teepflanzungen, winzige grüne Reisfelder, über Hügelbergen hingestellt; und eine Emsigkeit wie von Gnomen oder Zwergen, [...]3

Die gleiche Betonung des Kleinen und Zwergenhaften findet sich auch in Hearns Beschreibung seiner ersten Eindrücke in Japan (1894: 2f). Es scheint, dass Dauthendey wenig Interesse an dem wirklichen Japan hatte, das er zum Teil bedrückend fand. Aufschlußreich dafür ist eine Passage in einem Brief aus Japan an seine Frau:

Wenn ich nicht Japan in der Erinnerung hätte, wie es aus der Ferne zu Hause auf mich immer so schön wirkte, könnte ich es jetzt beinah langweilig und traurig nennen. (1930: 146)

Dauthendey hat sich während seines Aufenthaltes in Japan offenbar auch keine Aufzeichnungen gemacht (Yasui und Mehl 1987: 87). So konnte er die japanischen Geschichten in Die acht Gesichter am Biwasee (1911) frei nach seiner eigenen Phantasie mischen aus eigenen Erfahrungen und typischen Elementen des damals in Europa populären Japanbilds, wie man sie besonders in japanischen Holzschnitten fand (Yasui und Mehl 1987: 87). Wie er selbst 1918 in einem Brief schreibt:

Sie fragen, ob die japanischen Novellen japanisch sind? Nur die Titel und die acht Naturschönheiten sind japanisch. Die Geschichten sind vollständig dauthendeysche Erfindung. Alles glücklich erlogen. (1933: 21)

Ingrid Schuster betont, dass Dauthendey „Asien“ mehr oder weniger mit „Japan“ gleichsetzte, und dass das „wirkliche“ Japan für ihn nicht das Land selbst, sondern das Bild von Japan war, das er sich gemacht hatte. Und da dieses im Wesentlichen auch das Japanbild seiner Landsleute war, hielten diese seine exotischen Geschichten für besonders echt (Schuster 1977: 79). Wie Schuster (1977: 80) weist auch Keiko Nakagome auf authentische Elemente in Dauthendeys Geschichten hin, aber auch auf Nicht-Japanisches, Märchenhaftes und die Projektionen seiner eigenen Ideale (Nakagome 1991: 388-390). Wie Hearn beklagt Dauthendey die negativen Einflüsse der Verwestlichung, die das Japan seiner Träume zerstören (Dauthendey 1911/1957: 8-9). „Ein Japan-Bild wird zerstört, das sich Europa selbst geschaffen hatte.“ (Yasui und Mehl 1987: 87).

Kellermann
Bernhard Kellermann (1879-1951) verbrachte ungefähr ein Jahr in Japan und beschrieb seine Erfahrungen dort in zwei Büchern, Ein Spaziergang in Japan (1910) und, nach dem Erfolg des ersten, Sassa yo yassa (1912). Auch Kellermanns Beschreibungen erinnern an japanische Holzschnitte (1910/31920: 5、17f, 1912/31920: 60f). Auch er fürchtet, dass das alte Japan durch europäische Ideen zerstört wird (1910/31920: 272). Er betont die Harmonie mit der Natur in Japan im Gegensatz zu Europa (1910/31920: 21f; cf. Günther 1988: 186). Was Kellermann fast ausschließlich interessiert sind Teehäuser, Theater, Tänze und Feste, die er mit der europäischen Kultur kontrastiert (s. Günther 1988: 179-189).  So denkt er beim europäischen Theater an „barbarischen Pomp und luxuriösen Komfort“, dem er „das große Geheimnis“ des japanischen Theaters gegenüberstellt (1910/31920: 179).
Mehrfach finden sich bei Kellermann Stellen, wo er das Exotisch-Japanische im Sinne des Dionysischen bei Nietzsche beschreibt.4 Das gilt für den rasenden Kampf zweier wilder Männer in einer Theateraufführung (1910/31920: 271f) und für die Beschreibung eines Fests, bei dem ganz Kyoto von „Getöse und Geschrei“ und „ekstatischem Lärm“ erzittert und er selbst „erregt vor Freude“ ist (1910/31920: 77). Bei diesem Fest sind die „fanatisierten“ jungen Männer, die den Schrein („goldener Tempel“) tragen „strömend von Schweiß, mit klebenden Haaren, die Adern an den Schläfen blau geschwollen, verzerrt grinsend, mit vor Anstrengung kranken Augen, entstellt von Raserei“ (1910/31920: 78f). Selbst eine Szene in einem Teehaus beschreibt er in dieser Weise:

Die Samisenen wurden gestimmt, die Trommel dröhnte, und plötzlich brach der unbeschreiblichste Lärm los, den ich in meinem ganzen Leben gehört habe. Dieser Lärm mußte meilenweit das Land erschüttern. Die Samisenen klirrten, die Trommel donnerte, die Stimmen der Musikantinnen zeterten, eine fremde, wilde, rasende Musik, vermischt mit dem Miauen und Schreien von wilden Tieren, Panthern und Leoparden. […] Was war das? Diese Posen, dieses Schreiten, Schütteln der Köpfe, Schielen, die vibrierenden Fächer, dieses Spiel wunderbarer Linien, diese kleinen, süßen, miauenden Schreie, die den Lippen der berückenden Geschöpfe zuweilen entschlüpften - das war ein betörender Zauber. Mir schwindelte. Und meiner Seele dämmerte eine Ahnung davon auf, was für ein Volk es sein müsse, das solche Zerstreuungen ersonnen hatte. Vorwärts, tanzt! Haha, wir sind angekommen. (1910/31920: 10f)

Thomas Pekar weist zurecht auf die zahlreichen Anspielungen in diesem Text hin, die sich auf Dionysos, den ‚asiatischen’ Gott des Rausches beziehen (Pekar 2003: 314). Wie wir im Folgenden sehen werden, kann man die Atmosphäre in einem Teehaus damals aber auch ganz anders beschreiben.

Keyserling
Auch Hermann Graf Keyserling (1880-1946) liebt das alte Japan. Aber für ihn sind andere Aspekte wichtig. Er reiste 1911 nach Indien und in den Fernen Osten, wobei er auch Japan besuchte, und wurde bekannt durch sein Reisetagebuch eines Philosophen (1918). In seiner Beschreibung Japans gibt es eine Reihe von Passagen, die einen geradezu kruden Exotismus zeigen, eine nostalgische Sehnsucht nach einem vergangenen feudalen Zeitalter, das in seiner Vorstellung in Japan noch immer existiert:

Das japanische Hinterwäldlertum ist mir sympathischer als irgendeines, das ich jemals sah. Im eignet all das Süße, Zarte, Sinnige, Gemüt- und Reizvolle, das mir den kleinen Mann dieser Breiten, seit ich Lafcadio Hearn gelesen, so liebenswert erscheinen ließ. [...] Vielleicht zeigen sie mir auch ihre besten Seiten, weil ich [...] mich so zu ihnen verhalte, wie daheim als Feudalherr zur patriarchalisch denkenden Bauernschaft.
In den entlegenen Tälern von Yamato ist das Mittelalter noch nicht vorüber; [...] dort wollen sie noch aufschauen können. Wie gern habe ich mich in eine Rolle zurückversetzt, die zu spielen unsere Welt immer weniger Gelegenheit gibt! (Keyserling 1918/1956: 428)

Keyserling hat offenbar nicht die geringsten Zweifel, dass die Wirklichkeit anders sein könnte, da er sie selbst in seiner Phantasie geschaffen hat als Ausdruck seines „Wunschdenkens“ (Schauwecker 1987: 102, cf. 103).
Was er in Japan aber am meisten schätzt, sind die japanischen Frauen. „Die Japanerin“ ist für ihn „eines der vollendetsten, eines der wenigen ganz vollkommenen Produkte dieser Schöpfung“ (1918/1956: 477). Es wird jedoch schnell klar, dass er mit „der“ Japanerin tradionell „wohlerzogene“ Japanerinnen meint, die er den „zu bewußt[en]“ „modernen Mädchen“ in Europa gegenüberstellt; „die“ Japanerin „kann als Persönlichkeit nicht ernst genommen werden“, aber sie ist „reine Grazie“ (a.a.O.). Doch bald „wird auch die Japanerin, die ich meine, der Vergangenheit angehören, wie es die europäische Grande-Dame schon heute tut. Kein ästhetisch empfindender Mensch wird diesem Schicksal ohne Wehmut entgegensehen. Mit ihr schwindet einer der süßesten Reize der Erde dahin [...]“ (a.a.O.: 478).

Haunhorst
Einer, der diesen „süßen Reiz“ noch genossen und sein Leben lang davon geträumt hat, soll hier noch kurz erwähnt werden. Es ist Hans Anna Haunhorst, der 1910-1911 als Angehöriger der Deutschen Botschaft in Tokyo war. Das Buch über seine Erlebnisse in Japan, Das Lächeln Japans, schrieb er nach eigenen Angaben 1923-1924.5 Es ist „eine Liebeserklärung an Japan als das Land des Lächelns, der Ästhetik, der Moral und der Ruhe im Gegensatz zu dem materialistischen Westen“ (Krebs 1990: 79), wobei die Beziehung zu seiner Geliebten Haru eine besondere Rolle spielt. Wo Kellermann Ekstase und einen Lärm fand, der „meilenweit das Land erschüttern“ mußte (1910/31920: 11) da wird Haunhorst beglückt durch zarte Töne und stille Heiterkeit:

Immer, immer will ich an dich denken, du Land, das mein geworden ist durch tiefes, schauerndes Erleben. Immer will ich lauschen auf die Silbertöne deiner Tempelglöckchen im Abendwind, wenn sich der haßerfüllte Lärm eines Europäertages endlich ausgekeucht hat. Und immer will ich durch das aufdringliche Geschrei unserer armen Tageshelden die zurückhaltende Gedämpftheit der Shamisen und Koto deiner heiteren Teehäuser hören wie eine leis ironische Begleitmusik. (1936: 13)


3. Japanische Selbstexotisierung
Zum Schluß sei noch darauf hingewiesen, dass viele der schon damals nicht unumstrittenen (cf. Schuster 1977: 82-84) und oft widerspruchsvollen Japanbilder des Exotismus bis heute nicht nur in Klischees und Stereotypen in Deutschland und Europa fortleben, sondern bis in die Gegenwart von Japanern zur Darstellung ihrer eigenen Kultur verwendet werden. Ein früher Hinweis darauf findet sich bei Earl Miner:

[…] in this century, when the Japanese found they had become rather too drably the Westernized nation which they had once sought to be, it was pleasant for them to be able to return to his [Hearn’s] praise in the hope that what he saw was still basically true, after all. In a sense, the Japanese have fallen prey to a foreign exoticizing of themselves.  (1958: 65)

Sehr viel schärfer gefaßt und sogar als neurotisch kritisiert wird dieser Vorgang von Kenichi Mishima:

Mit Ethno-Orientalismus [...] ist jenes neurotische Bestreben einer kulturellen Selbstprofilierung und –porträtierung gemeint, jener kulturelle Vorgang, dass nämlich die intellektuellen Vertreter einer nichteuropäischen Kultur, in unserem Fall der japanischen, erstens Bilder und Ansichten, die die Europäer über sie zusammenphantasiert haben, bereitwillig akzeptieren, zweitens dann anhand dieser Bilder die eigene Tradition rekonstruieren, um sich selbst gegen den Westen in Kontrast zu setzen und zu behaupten. (‚Spurensicherung mit Rückschlüssen, aber ohne Prognose’, Blaue Blätter [DAAD], 2001, 5: VIII)

Es ist sicherlich eine erstaunliche Tatsache, dass in den Nihonjinron [Japanerdiskurse] eine ganze Reihe von zentralen Vorstellungen des europäischen Exotismus auftauchen, auch da, wo sie der japanischen Wirklichkeit offensichtlich nicht entsprechen. Wie ich es in einem früheren Aufsatz formuliert habe: „Japaner bestimmen hier ihre eigene Kultur und Gesellschaft teilweise über Vorstellungen, die von Europäern als Gegenbild zur europäischen Kultur entworfen oder erträumt wurden und mit Japan ursprünglich nichts zu tun haben. [...] Es scheint, daß europäische Sehnsüchte und japanische Interessen sich hier gegenseitig bestätigen und so verstärken, dass ein kritischer Rückbezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten schwierig wird. Das erklärt manche extreme Tendenzen und Positionen in den Nihonjinron’ und die unkritische Art, in der diese oft auch außerhalb Japans übernommen werden. Im Grunde haben Exotismus und ‚Nihonjinron’ dieselbe Wurzel, insofern sie Ausdruck sind von Wünschen, Sehnsüchten und Ängsten, Flucht aus einer vielfach als negativ oder problematisch erfahrenen Wirklichkeit in eine nur vorgestellte, erträumte Welt.“ (Schepers 1994: 38f)



Literatur
Dauthendey, Max: Mich ruft dein Bild. Briefe an seine Frau, München, 1930
Dauthendey, Max: Ein Herz im Lärm der Welt. Briefe an Freunde, München, 1933
Dauthendey, Max: Die acht Gesichter am Biwasee, München, 1911/1957
Gulick, S.L.: The East and the West. A Study of their Psychic and Cultural Characteristics, Rutland & Tokyo, 1963
Günther, Christiane: Aufbruch nach Asien. Kulturelle Fremde in der deutschen Literatur um 1900, München, 1988
Haunhorst, Hans Anna: Das Lächeln Japans, Leipzig, 1936
Hauser, Linus: „Ideelle Ausbeutung der Exoten oder versöhnender Tanz der Standpunkte“, in: Exotische Welten. Europäische Phantasien, Stuttgart, 1987, S. 40-43
Hearn, Lafcadio: Glimpses of Unfamiliar Japan, vol. I, Boston und New York, 1894
Kellermann, Bernhard: Ein Spaziergang in Japan, Berlin, 1910/31920
Kellermann, Bernhard: Sassa yo yassa. Japanische Tänze, Berlin, 1912/31920
Keyserling, Hermann Graf: Das Reisetagebuch eines Philosophen ( = Die Gesammelten Werke, Bd. 1), Darmstadt, 1918/1956
Krebs, Gerhard: „Ein deutscher Diplomat in Japan. Hans Anna Haunhorst“, in: Nachrichten der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens / Hamburg, 1990, 147-148, S. 75-82.
Miner, Earl: The Japanese Tradition in British and American Literature, Princeton, 1958
Nakagome, Keiko: „Das Exotische als äußere Fremde am Beispiel von Max Dauthendeys ‚Die acht Gesichter am Biwasee’“, in: E. Iwasaki (Hg.), Begegnung mit dem „Fremden“, München, 1991, S. 381-391
Ota, Yuzo: „Lafcadio Hearn. Japan's Problematic Interpreter”, in: S. Hirakawa (Hg.), Rediscovering Lafcadio Hearn, Folkestone, 1997, S. 210-222
Pekar, Thomas: Der Japan-Diskurs im westlichen Kulturkontext (1860-1920). Reiseberichte - Literatur – Kunst, München, 2003
Pollig, Hermann: „Exotische Welten. Europäische Phantasien“, in: Exotische Welten. Europäische Phantasien, Stuttgart, 1987, S. 16-25
Schauwecker, Detlev: „Der Fuji-san in der deutschen Literatur“, in: G. Paul (Hg.), Klischee und Wirklichkeit japanischer Kultur, Frankfurt am Main, 1987, S. 99-124.
Schepers, Gerhard: „Shinran im interkulturellen Kontext", in: M. Sonoda (Hg.), Hōrin. Vergleichende Studien zur japanischen Kultur, I (1994), S. 27-40
Schepers, Gerhard: „Exoticism in early twentieth-century German literature on Japan”, in: C. W. Spang und R.-H. Wippich (Hg.), Japanese-German Relations, 1895-1945. War, diplomacy and public opinion, London und New York, 2006, S. 98-116
Schuster, Ingrid: China und Japan in der deutschen Literatur 1890-1925, Bern, 1977
Yasui, Waki und Mehl, Heinrich: „Der Einfluß Japans auf die deutsche Literatur“, in: G. Paul (Hg.), Klischee und Wirklichkeit japanischer Kultur, Frankfurt am Main, 1987, S. 65-98




Anmerkungen
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1   Ausführlicher dazu s. Schepers 2006: 98-105.
2   Cf. Pekar 203: 128-130, Ota 1997: 211f.
3   Die geflügelte Erde, 23. 4. 1906, zitiert nach Yasui und Mehl 1987: 86. S. dort auch den Gegensatz zur wirklichen Landschaft, wie sie in den Beschreibungen anderer europäischer Reisender erscheint (a.a.O.: 85f).
4 Ausführlicher dazu s. Schepers 2006: 101-103, 106f.
5 Zu der komplexen Publikationsgeschichte des Werks s. Krebs 1990.
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