Kafka lesen Amae Japan Josefine Verwandlung Galerie Brücke Prometheus Sirenen Gesetz - Was aus meinen Träumen wurde

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Kafka: eine Einführung

„Von der Literatur aus gesehen ist mein Schicksal sehr einfach. Der Sinn für die Darstellung meines traumhaften innern Lebens hat alles andere ins Nebensächliche gerückt, und es ist in einer schrecklichen Weise verkümmert und hört nicht auf zu verkümmern. Nichts anderes kann mich jemals zufriedenstellen.“
(Tagebücher 6. 8. 1914)

Die ungeheure Welt, die ich im Kopfe habe. Aber wie mich befreien und  sie befreien, ohne zu zerreißen. Und tausendmal lieber zerreißen, als in mir sie zurückhalten oder begraben. Dazu bin ich ja hier, das ist mir  ganz klar.
(Tagebücher 21. 6. 1913)
Als Franz Kafka ein Jahr nach der obigen Aufnahme 1924 im Alter von 40 Jahren starb, kannten und schätzten ihn nur wenige. Heute, 100 Jahre später, sind Menschen auf der ganzen Welt fasziniert von seinen Werken und die Literatur über ihn ist unüberschaubar. Kafkas Bereitschaft, alles andere zu opfern, um der ungeheuren Welt und dem traumhaften Leben, das er in sich spürte, in seiner Literatur Ausdruck zu geben, beeindruckt die Menschen bis heute. Aber der Zugang zu seinen Werken bleibt nach wie vor schwierig. Kafka hat eine ganz neue Art von Literatur geschaffen, um sich aus den Zwängen und Vorurteilen der traditionellen Sprache zu befreien. Erst allmählich dämmert es vielen, dass das, was er beschreibt, nicht eine groteske, absurde, eben kafkaeske Welt ist, sondern dass er eine innere Wahrheit sichtbar macht, die durch unsere Befangenheit im überkommenen Denken verstellt wird. (ausführlicher dazu)
Ich erinnere mich an meine erste Kafka-Lektüre noch während der Schulzeit. Mit der Verwandlung konnte ich überhaupt nichts anfangen. Auf der Galerie versuchte uns ein junger Referendar verständlich zu machen. Der Blick in unsere verständnislosen Gesichter muss ihn so irritiert haben, dass er uns anschrie: Versteht ihr das denn nicht? Versteht ihr das nicht? Heute gehören beide Texte zu meiner Lieblingslektüre, in denen ich immer wieder neue faszinierende Entdeckungen mache.
Wie war das möglich? Ich sehe vor allem zwei Gründe dafür. Der eine sind die, leider nur wenigen, guten Veröffentlichungen über Kafka - ich meine nicht die über Kafkas Persönlichkeit und seine Lebensumstände, die meist wenig hilfreich oder gar irreführend sind, sondern diejenigen, die das in den Mittelpunkt stellen, was für Kafka allein wichtig war, seine Texte. Der andere Grund ist die mir erst allmählich bewusst gewordene Tatsache, dass das Verständnis von Kafkas Texten wächst mit den eigenen Lebenserfahrungen. Dass mein Wechsel an eine Universität in Japan und die jahrzehntelangen neuen Erfahrungen dort einen derartigen Sprung in dieser Richtung bedeuten würden, hatte ich allerdings nicht erwartet. Wie ist das möglich? Kafka wusste kaum etwas von Japan und auch nur wenig über China. Wie konnte er trotzdem Phänomene beschreiben, die in der japanischen Sprache und Kultur sehr lebendig sind, in Europa dagegen weitgehend unbekannt und missverstanden? Ist es aber nicht genau das, was die Kunst und den Künstler ausmacht, die Fähigkeit, tiefe, innere, universelle Wahrheiten sichtbar zu machen, die in der überkommenen Vorstellungswelt, ihrer Sprache, ihren Konzepten und Ausdrucksformen oft gar nicht vorhanden sind?
Dass dazu für ihn auch eine andere Haltung, ein anderer Zugang zur Wirklichkeit notwendig war, deutet Kafka in den obigen Zitaten an. Während er zunächst von der "ungeheuren Welt" in seinem Kopfe spricht, die ihn zu zerreißen droht, geht es nur ein Jahr später um sein "traumhaftes inneres Leben". Was dieser Unterschied für ihn bedeutet, hat Kafka besonders in Auf der Galerie dargestellt.
Dazu möchte ich auch noch seine Freundin Milena Jesenská zitieren, die ihn wahrscheinlich besser verstanden hat als jeder andere Mensch in seinem Leben.
Gewiß steht die Sache so, dass wir alle dem Augenschein nach fähig sind zu leben, weil wir irgendeinmal zur Lüge geflohen sind ... Aber er ist nie in ein schützendes Asyl geflohen, in keines. Er ist absolut unfähig zu lügen, so wie er unfähig ist, sich zu betrinken. Er ist ohne die geringste Zuflucht, ohne Obdach. Darum ist er allem ausgesetzt, wovor wir geschützt sind. ... Das ist kein Mensch, der sich seine Askese als Mittel zu einem Ziel konstruiert, das ist ein Mensch, der durch seine schreckliche Hellsicht, Reinheit und Unfähigkeit zum Kompromiß zur Askese gezwungen ist.
   [Milena Jesenská an Max Brod [Anfang August 1920]  In tschechischer Sprache geschrieben; übersetzt von Max Brod.]
Dieses unbedingte Streben nach Wahrheit nimmt bei Kafka gelegentlich sogar fast religiöse Züge an, wenn er auf dem Höhepunkt seines Schaffens (in Zürau) davon spricht, dass er Glück nur haben könne, falls ich die Welt ins Reine, Wahre, Unveränderliche heben kann. (Tagebücher, 25. 9. 1917) Etwas davon spürt, glaube ich, jeder Leser in Kafkas Texten und diese Faszination führt dazu, dass man sich immer wieder mit ihm beschäftigt. Und wie sehr es sich lohnt, mit Kafka zu träumen, die traumhafte innere Welt in seinen Texten zu entdecken, habe ich jedenfalls häufig erfahren und möchte nun versuchen, diese Erfahrungen hier zu vermitteln.
Seit alters her fanden menschliche Träume Ausdruck in Mythen und Sagen. Kafka knüpft daran an, wenn er in einigen seiner kurzen Erzählungen solche Motive aufnimmt. Interessant ist hier vor allem sein Prometheus, besonders auch durch den Gegensatz zu Goethes gleichnamigem Gedicht. Bei Kafka wird die ganze Entwicklung hin zur europäischen Moderne gleichsam zurückgebogen zu ihrem vor-mythischen „Wahrheitsgrund“.
Ein anderer Held der griechischen Mythologie, Odysseus, wird im Schweigen der Sirenen zunächst geradezu lächerlich gemacht mit seinem Listenreichtum“, um sich dann aber als die wohl positivste Figur in Kafkas Schriften zu zeigen, die eine geradezu utopische alternative Möglichkeit des Menschseins sichtbar werden lässt.
Besonders wichtig für das Verständnis von Kafkas Welt ist sein kurzer, sehr dichter Text Auf der Galerie, zu dem ich daher eine eigene Einführung geschrieben habe. Ein ähnliches Problem wird in dem kurzen Text Der Kreisel angesprochen. Ebenfalls gesondert eingeführt wird ein Thema, das neben einigen Lebenszeugnissen vor allen in der Verwandlung und Kafkas letztem Werk Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse eine zentrale Rolle spielt. Es geht um eine besondere Form der emotionalen Abhängigkeit. Diese ist bis heute im deutschen Sprach- und Kulturraum kaum präsent, wurde von Kafka aber trotzdem als wichtiges Element in den menschlichen Beziehungen erkannt und umfassend beschrieben. Erschlossen wird sie hier auf dem Umweg über die japanische Sprache und Kultur, in der sie unter dem Begriff Amae bekannt ist.
Eine besonders originelle Ausformung von Kafkas „Welt im Kopfe“ und seines „traumhaften innern Lebens“ findet sich schließlich noch in Die Brücke, ein Spiel mit den Grenzen und Möglichkeiten des Menschseins.
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