Kafa lesen: Die Brücke, neue textbegleitende Interpretation - Was aus meinen Träumen wurde

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Kafka lesen: Die Brücke (1916/7) [ausführlicher dazu]

Diese kurze Prosastück steht wahrscheinlich am Anfang einer der kreativsten Schaffensperioden Kafkas, nach zwei unvollendet gebliebenen Romanen und nach beinahe zwei Jahren erfolgloser literarischer Bemühungen. Es ist wohl das erste Werk, das er im Winter 1916/7 in dem winzigen Häuschen im Alchemistengässchen der Prager Burg schrieb, wo er völlig ungestört und fern der Familie seine Abende und Nächte verbringen konnte. Aus dieser Situation heraus könnte die Vorstellung von der einsamen Brücke fernab im Gebirge entstanden sein, obwohl man mit biographischen Bezügen bei Kafka immer sehr vorsichtig sein sollte.
Der Titel des Stücks ist nicht von Kafka, aber das Wort Brücke taucht ja ohnehin gleich im ersten Satz auf und setzt das Thema.

Nachgelassene Schriften und Fragmente I: [19] [„Oktavheft B“] (1916)[siehe]
Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich, diesseits waren die Fussspitzen, jenseits die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm hatte ich mich festgebissen.
[Der erste Satz schildert die Ausgangssituation, wobei die Identifikation eines Menschen mit einer Brücke an etwas nur Vorgestelltes oder Traumartiges denken lässt, was auch durch die Erwähnung des Traums gegen Ende des Stücks unterstrichen wird. Die Beschreibung beginnt zunächst wie die objektive Beschreibung in einer auktorialen Erzählung. Mit „steif und kalt wird der Einfluß des Brücke-seins auf das Gefühlsleben des Ichs, genauer gesagt, die praktische Ausschaltung dieses Gefühlslebens, angezeigt. Fußspitzen und Hände waren... eingebohrt. Es heißt also nicht: hatte ich eingebohrt, analog zu dem folgenden „hatte ich mich festgebissen. Dies suggeriert, dass das Ich sich wie eine Brücke durch Bohrlöcher hat verankern lassen. Aber dann kommt in dem Zusatz am Ende doch noch etwas menschliches Gefühl ins Spiel. Der Boden besteht nur aus „bröckelndem Lehm, was das Ich, besonders auch im Hinblick auf den „Abgrund, offenbar so verunsichert, dass es sich umso verbissener festklammert. So würde ich jedenfalls das „festgebissen verstehen, da ein Festbeißen in bröckelndem Lehm selbst in einem Traum schwer vorstellbar ist.
Dass Kafka von „diesseits und „jenseits spricht statt einfach etwa von dieser Seite und der anderen sollte nicht dazu verführen, hier eine Brücke zwischen Diesseits und Jenseits anzunehmen, denn zum Diesseits gibt es nicht einmal Andeutungen und und vom Jenseits wissen wir nur, dass es aus bröckelndem Lehm besteht.
Schon eher kann man hier an Nietzsches bekanntes Zitat denken:
Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde.
...
Was groß ist am Menschen, das ist, daß er eine  Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist,  daß er ein Übergang und ein Untergang ist.
[Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 281]

Mit dem Menschen als Brücke über einem Abgrund gibt es eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen beiden Texten, auch von Untergang ist bei Kafka die Rede, allerdings in einem ganz anderen Sinne als bei Nietzsche, wie wir sehen werden. Kafka hat sich schon früh mit Nietzsche beschäftigt, aber das Ich in diesem Text kann man wohl eher als ironischen Gegensatz zu Nietzsches Übermenschen verstehen und zu seiner heroisch-antiquierten Welt. Man könnte geradezu von einer Stichelei Kafkas gegen Nietzsches Größenwahn und seine schlechten Metaphern sprechen.]
Die Schösse meines Rockes wehten zu meinen Seiten.
[Letzteres zeigt sich bereits hier, wo wir der Person des Ich etwas näherkommen. Interessanterweise vermeidet es Kafka, das Ich als er oder sie zu bezeichnen. So können wir zunächst nur sagen, dass es jemand ist, der mit einem Rock mit Schößen bekleidet ist, also wohl jemand in einer etwas gehobeneren Stellung. Man könnte an einen Firmenangestellten denken, dem eine nicht leichte Aufgabe zugewiesen wurde, und der nun mit aller Kraft und viel Geduld sich dieser Aufgabe widmet, auch wenn er damit an dem einsamen Ort wenig Aufmerksamkeit erregt. Auch selbst aktiv werden kann er nicht. „Mit wehenden Rockschößen sagte man, wenn jemand besonders aktiv und in Bewegung war. Dass das Ich die offenbar nur vom Wind bewegten Röcke erwähnt, kann man auch als Zeichen der Frustration über die eigene Inaktivität sehen.
Interessanter ist aber noch die Trennung der beiden Wörter Rock und Schöße in Kafkas Satz, besonders im Hinblick auf die Frage ob die Brücke nun weiblich oder männlich ist. Das Wort Rock allein kann sich sowohl auf Frauen wie Männer beziehen. Gleiches gilt für Schoß, wobei allerdings die spezielle Bedeutung für Frauen hervorsticht. Ausgerechnet durch Hinzufügung dieses Wortes wird nun der Rock in unserem Text zu einem männlichen Kleidungsstück, eindeutig allerdings erst durch die Erwähnung des Wehens, weil man „mit wehenden Rockschößen nur bei Männern sagt. Es ist anzunehmen, dass Kafka durch Trennung der beiden Wörter diese komplexen Zusammenhänge bewusst machen will. Gleichzeitig kann man es als Warnung verstehen, auch für den folgenden Text, vorschnell Personen in ein weiblich-männliches Schema einzuordnen.]

In der Tiefe lärmte der eisige Forellenbach.
[Mit wenigen Worten wird hier die bedrohlich-raue und zugleich faszinierende Gebirgslandschaft angedeutet.]

Kein Tourist verirrte sich zu dieser unwegsamen Höhe, die Brücke war in den Karten noch nicht eingezeichnet.
[Diese auffallend prosaisch-technische Erklärung könnte man als ironische Spitze gegen die heroisch-antiquierte Bergwelt lesen, wie Sie Nietzsches Zarathustra liebt. Hinter der nüchtern-objektiven Feststellung spürt man aber auch die Frustration über das lange Warten.]

So lag ich und wartete;; ich musste warten;; ohne abzustürzen kann keine einmal errichtete Brücke aufhören Brücke zu sein.
[Das wird dann hier durch das doppelte „warten" auch als persönliche Erfahrung des Ich angesprochen, aber die Zwangslage der Brücke wird  als unvermeidlich akzeptiert.]

Einmal gegen Abend, war es der erste war es der tausendste, ich weiss nicht, meine Gedanken giengen immer in einem Wirrwarr, und immer immer in der Runde — gegen Abend im Sommer, dunkler rauschte der Bach, hörte ich einen Mannesschritt.
[Dann aber geschieht etwas, und zwar gegen Abend . Das wird noch einmal wiederholt, nun mit den Zusätzen im Sommer und „dunkler rauschte der Bach. Ein schwüler Sommerabend, ein dunkel und geheimnisvoll rauschender Bach: damit sind wir mitten in einer typisch romantischen Stimmung, aus der heraus geheimnisvolle Stimmen und Visionen möglich werden, zumal wenn das Ich offenbar jedes Zeitgefühl verloren hat und seine Sinne verwirrt sind. Aus dieser Situation heraus hört das Ich einen „Mannesschritt, oder glaubt zumindest diesen zu hören. Immerhin wird der Schritt nicht eindeutig einem Mann zugeordnet („der Schritt eines Mannes), sondern es bleibt offen, ob er nur so klingt wie der eines Mannes.]

Zu mir, zu mir. Strecke Dich Brücke, setze Dich in Stand, geländerloser Balken, halte den Dir Anvertrauten, die Unsicherheiten seines Schrittes gleiche unmerklich aus, schwankt er aber, dann gib Dich zu erkennen und wie ein Berggott schleudere ihn ans Land.

[Die direkte Anrede an sich selbst lässt uns in das Innere des Ich blicken und offenbart seine Erregung. Das doppelte „zu mir zeigt wie sehr erhofft und sogar ersehnt die ankommende Person ist. Das Ich ist fest entschlossen, die ganze Breite seiner Möglichkeiten zu nutzen, um seiner Aufgabe gerecht zu werden und die anvertraute Person sicher zu geleiten. Diese Möglichkeiten reichen von einer wo nötig fürsorglichen und sensibel-anpassungsfähigen Haltung im Hintergrund bis hin zu einem machtvollen offenen Eingreifen, wenn Not am Mann ist, also die ganze Breite des Menschlichen, die man sonst gerne auf Frauen und Männer verteilt. Damit wird klar, dass das Ich, das die Brücke bildet sich keiner bestimmten Geschlechterrolle zugehörig fühlt, was seine Fähigkeiten betrifft.]
Er kam, mit der Eisenspitze seines Stockes beklopfte er mich, dann hob er mit ihr meine  Rockschössße und ordnete sie auf mir, in mein buschiges Haar fuhr er mit der Spitze und liess sie, wahrscheinlich weit umherblickend, lange drin liegen.
[Das Ich kann den Ankommenden nicht sehen, also allenfalls hören und spüren. Trotzdem bezeichnet es ihn gleich als „er und stellt ihn sich, was ja auch nahe liegend ist, wohl als erfahrenen Bergsteiger vor, wie er sich in diese einsame und unwegsame Bergwelt wagen würde. Dazu passt der Stock mit Eisenspitze, mit dem er zunächst den Balken, aus dem die Brücke ja nur besteht, vorsichtig abklopft. Was bedeutet dann aber das Heben und Ordnen der Rockschöße und erst recht die Spitze in seinem buschigen Haar, wobei ersteres traditionell eher einer Frau, letzteres eher einem Mann zugeordnet würde? Verschiebt sich hier, zumindest in seiner Phantasie, die Begegnung in den erotischen Bereich, ohne dass klar wird, was das zwischen dem Ich in männlicher Kleidung und dem als Mann vorgestellten Ankommenden bedeuten könnte. Ein Hinweis ergibt sich vielleicht daraus, dass das Ich sich den Mann als „wahrscheinlich weit umherblickend vorstellt. Das erinnert an das Ende von Das Schweigen der Sirenen, wo alles an den in die Ferne gerichteten Blicken des Odysseus abgleitet und die Sirenen so fasziniert sind vom großen Augenpaar des Odysseus, das sie alles andere darüber vergessen. Vielleicht liegt die Attraktivität des Mannes für das Ich eher in diesem Bereich. Dann ist aber auch  der in den Sirenen folgende Satz wichtig: .Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden Das könnte ein wichtiger Hinweis für die Interpretation des Endes unseres Stückes sein.]

Dann aber — gerade träumte ich ihm nach über Berg und Tal — sprang er mit beiden Füssen mir mitten auf den Leib. Ich erschauerte in wildem Schmerz, gänzlich unwissend.
[Bevor das durch dann aber angekündigte Ereignis eintritt, führt das Ich seinen Traum harmonisch zu Ende, indem es dem Unbekannte nachträumt. Doch dann wird es offenbar geradezu brutal mit der Wirklichkeit konfrontiert. Auch hier erfahren wir nur, wie diese Begegnung von dem Ich erlebt wird, bleiben also an dessen beschränkte Sichtweise gebunden. Dass ein erfahrener Bergsteiger, der den unsicher erscheinenden Balken über einem Abgrund vorsichtig beklopft, dann mitten auf diesen draufspringt, erscheint schwer nachvollziehbar. Es sind wohl psychische Faktoren und die Unwissenheit über das, was da auf seinem Rücken geschieht, die diese erste Begegnung des Ich mit einem Menschen nach langer Zeit zu einem derart emotionalen Erlebnis machen.]

Wer war es?? Ein Kind?? Ein Turner?? Ein Waghalsiger?? Ein Selbstmörder?? Ein Versucher?? Ein Vernichter?
[An die Sichtweise des Ich gebunden können wir allenfalls aus den Fragen einige Hinweise gewinnen, was auf der Brücke und mit der Brücke tatsächlich geschehen sein könnte.  Aber die Bandbreite ist sehr groß. von einem harmlosen Kind bis hin zu einem Vernichter. Von einem Sportler über einen vielleicht aus Rekordsucht Waghalsigen, bis hin zu einem Selbstmörder. Auch eine erotische Begegnung könnte angedeutet sein mit dem Wort „Versucher, das aber auch andere Möglichkeiten offen lässt.]

Und ich drehte mich um, ihn zu sehn. Brücke dreht sich um!! Ich war noch nicht umgedreht, da stürzte ich schon, ich stürzte und schon war ich zerrissen und aufgespiesst von den zugespitzten Kieseln, die mich so friedlich immer angestarrt hatten aus dem rasenden Wasser.
Konstruktionsbedingt stürzt die Brücke ab, wenn sie sich umdreht. In der Sage verliert Orpheus seine Eurydike, als er sich umdreht, weil er sicher sein will, dass sie ihm folgt. Auch das Brücke-Ich will unbedingt wissen und wird so vernichtet, im Gegensatz zu den Sirenen, die einfach zufrieden sind mit dem, was sie haben. Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden. Das potentiell Zerstörerische des Bewusstseins wird von Kafka in seiner wichtigen Tagebucheintragung von 1913 angesprochen: „Die ungeheure Welt, die ich im Kopfe habe. Aber wie mich befreien und sie befreien, ohne zu zerreißen. Die ungeheure Welt im Kopf des Brücke-Ichs wird durch seine vielen Fragen angedeutet. Und bei dem Versuch, daraus tatsächliches Wissen zu machen, zerreißt es das Brücke-Ich. Hätte es nicht besser der unbekannten Person weiter nachträumen sollen? Hätte das Brücke-Ich nicht weiter bescheiden seine Aufgabe erfüllen sollen, unbeirrt von den Widersprüchen in seinem Kopf, mit seiner reichen träumerische Innenwelt und allen ihren Möglichkeiten, solange man in der Welt der Phantasie bleibt?
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