Hochschulreform in Japan Schulerziehung in Japan - Was aus meinen Träumen wurde

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Hochschulreform in Japan
Vieles was auf dieser Website gesagt wird über die Menschen in Japan und die Situation in ihrem Land lässt sich nur schwer verstehen ohne Kenntnisse des japanischen Bildungssystems, insbesondere der Situation an den Hochschulen. Dass diese in vieler Hinsicht unbefriedigend ist, wird in Japan seit Jahrzehnten kritisiert und teils heftig diskutiert, allerdings meist ohne viel zu bewirken. Immerhin gab es durch staatlichen Druck in den neunziger Jahren viel Bewegung und auch einige Veränderungen, worüber der folgende Artikel informiert.
Bei allen Diskussionen über das japanische Bildungssystem muss man sich, vor allem auch aus deutscher Sicht, immer wieder vor Augen halten, dass die entscheidenden Stationen auf dem Bildungsweg in Japan nicht die Abschlüsse sind, sondern die Aufnahmeprüfungen vom Kindergarten an, die deshalb für viele zu der bekannten „Examenshölle“ werden, während man die Abschlüsse den Betroffenen oft praktisch hinterherwirft.
     
Hochschulreform in Japan an der Schwelle zum 21. Jahrhundert
[in: Japans Kultur der Reformen, ed. W. Schaumann, Iudicium 1999, S. 215-226]
Gerhard Schepers   
     
1. Einleitung                                                                                        
Die Reform der Hochschulen ist seit Jahren ein beliebtes Thema in den japanischen Medien. Kaum ein Tag, an dem es nicht in der Zeitung angesprochen oder im Fernsehen von mehr oder weniger berufenen Experten diskutiert wird. Dabei überwiegt zumeist die Kritik an den Universitäten und an ihrer mangelnden Bereitschaft zu Reformen. Versuche der Regierung, eine stärkere Qualitätskontrolle einzuführen, werden von Beifall begleitet, und das Fernsehen liefert als Illustration dazu das typische Bild eines Professors, der das Wort Vorlesung wörtlich versteht und seinen teils schlafenden, teils schwätzenden Studenten mit monotoner Stimme und ohne aufzublicken aus einem Buch vorliest, das er seit Jahren zu diesem Zweck benutzt.
Aber auch gegen die mangelnde Lernbereitschaft der Studenten erheben sich immer mehr Stimmen. Hochschullehrer, die Studenten durchfallen lassen, weil diese nicht einmal Mininimalbedingungen erfüllen, finden Unterstützung in den Medien, weniger allerdings in der Universitätsverwaltung und bei den Eltern, die der Meinung sind, dass die Studenten sich mit den hohen Studiengebühren auch bereits den erfolgreichen Studienabschluss erkauft haben, selbst bei mangelnden Leistungen. Doch der Druck auf die Studenten wächst, auch von Seiten des Ministeriums.  Angesichts der enormen Summen, die vom Staat und besonders von den Eltern für die Universitätsausbildung aufgewendet werden, ist es schon erschreckend, wenn selbst Absolventen angesehener Universitäten angeben, sie hätten kaum etwas gelernt oder wüssten sogar weniger als beim Eintritt in die Universität. Natürlich kann man vieles davon nicht so einfach verallgemeinern, wie es häufig in den Medien geschieht. Aber dass es große Probleme an den Universitäten gibt und dass es so nicht weitergehen kann, ist wohl allen Beteiligten klar.
Der Notwendigkeit von Universitätsreformen ist man sich in Japan seit langem bewusst. In den sechziger Jahren war man durch die Studentenunruhen aufgerüttelt worden und eine Reihe von Reformvorstößen wurden daraufhin versucht. Aber das ist längst vergessen. Heute sind es eher die Studenten, die aufgerüttelt werden müssen. Man fragt sich, wie diese einheitlich für die Aufnahmeprüfungen gedrillten, oft ausgelaugten und kaum noch motivierbaren Studenten in unserer sich rapide verändernden Welt den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sein sollen. Daher in den letzten Jahren die immer stärkere Forderung nach mehr Individualität, Flexibilität, Kreativität, Selbständigkeit und Lebenstüchtigkeit, und dazu soll nun die Universitätsausbildung entscheidend beitragen. Andere beliebte Schlagworte in der Reformdiskussion sind Internationalisierung und Globalisierung. Hinzu kommt als weiteres Problem die schwierige finanzielle Lage in vielen Bereichen, so dass die Eltern sich immer sorgfältiger überlegen, wo sie ihr Geld für die Zukunft ihrer Kinder investieren. Da zugleich wegen der zunehmend geburtenschwächeren Jahrgänge die Zahl der potentiellen Studienbewerber ständig abnimmt, wächst die Konkurrenz unter den Universitäten, und für manche beginnt bereits der Überlebenskampf. Um diese Probleme in den richtigen Zusammenhang zu stellen, möchte ich zunächst die wichtigsten Stufen in der Entwicklung der letzten Jahrzehnte kurz beschreiben und dann einige konkrete Einzelprobleme erörtern. Ich gehe dabei nur ein auf die im Mittelpunkt des Interesses stehende Reform der vierjährigen Universitätsausbildung (gakubu), die mit dem Bachelor abgeschlossen wird. Erst in den letzten Jahren ist auch die Notwendigkeit einer Reform der Magister- und Doktorkurse (daigakuin) stärker in den Blick gekommen.

2. Reformbestrebungen seit den achtziger Jahren
Die heutige umfassende Reformbewegung im Universitätsbereich begann im Wesentlichen in der Mitte der achtziger Jahre. Als Vorläufer dazu kann man die Reformvorschläge sehen, die der Zentralrat für Erziehung (Chūō Kyōiku Shingikai, Central Council for Education) bereits 1971 vorgelegt hatte. Die meisten dieser Vorschläge konnten allerdings nicht verwirklicht werden, da es nicht gelang, die Universitäten zu umfassenden Reformen zu bewegen. Andererseits versuchte man, Reformen zumindest über Neugründungen zu erreichen. So wurde eine Universität für Fernstudien (Hōsō Daigaku, University of the Air) gegründet und vor allem, nach langen Auseinandersetzungen, die Tsukuba-Universität als Reformuniversität, die allerdings kaum Maßstäbe für die heutige Reformdiskussion setzen konnte*. Eine andere Neuerung war die staatliche finanzielle Unterstützung für private Universitäten, die natürlich dem Erziehungsministerium auch mehr Einflussnahme erlaubte. Diese Kontrolle wird in Japan häufig als Hindernis für Reformen angesehen, was besonders in der Vergangenheit in vielen Einzelfällen auch zutreffen dürfte. Man darf allerdings nicht übersehen, dass das Erziehungsministerium auch durchaus stillschweigend Abweichungen von Bestimmungen duldet, wo solche sinnvoll erscheinen. Vor allem aber muss man sagen, dass der gegenwärtige Reformwille vieler Universitäen wohl kaum ohne die Richtlinien und den Druck des Ministeriums zustande gekommen wäre.
Der eigentliche Durchbruch zu einer umfassenden Reform des japanischen Erziehungswesens kam erst 1984 mit den Empfehlungen, die vom Nationalrat für Erziehungsreform (Rinji Kyōiku Shingikai, National Council on Educational Reform), einem Gutachterausschuss des damaligen Premierministers Nakasone, vorgelegt wurden. Allerdings darf man die konservative Tendenz und die Betonung von nationalen Werten der Vergangenheit in diesen Empfehlungen nicht übersehen*. Wichtig ist jedoch, dass damit eine breite Reformdiskussion einsetzte und dass man nun endlich begann, konkrete Reformmaßnahmen ins Auge zu fassen. Für den Universitätsbereich besonders wichtig war die Empfehlung des Nationalrats, einen Universitätsrat (Daigaku Shingikai, University Council) zu bilden. Dieser besteht seit 1987 als Gutachterausschuss des Erziehungsministers, hat seither zahlreiche konkrete Empfehlungen ausgearbeitet und spielt eine führende Rolle in der Planung und Verwirklichung der Universitätsreform.
Durch Änderung der Richtlinien für Universitätsgründungen (Daigaku Setchi Kijun, University Establishment Standards) wurde dann 1991 die rechtliche Grundlage für eine umfassende Universitätsreform geschaffen. In der darauf folgenden Reformdiskussion wird für diese Änderung häufig das Wort taikōka gebraucht, was in etwa unserem Wort Deregulierung entspricht. Den Universitäten wird durch diese Deregulierung sehr viel mehr Raum für eigene Gestaltungsmöglichkeiten gegeben, aber es gibt auch eine Reihe von Auflagen, die die Reform vorantreiben sollen. Genannt seien hier für beides vor allem die größere Flexibilität bei der Gestaltung des Curriculums, das integrierte Vierjahresprogramm ohne die bisherige Unterscheidung von zunächst zwei Jahren Allgemeiner Bildung im kyōyōbu und dann zwei Jahren Spezialausbildung, die Forderung nach Qualitätskontrolle sowohl durch Studenten (Bewertung der Lehrveranstaltungen) als auch durch Universitätsgremien und Gutachter anderer Universitäten, die gegenseitige Anerkennung von Lehrveranstaltungen durch Vereinbarungen zwischen Universitäten und die größere Flexibilität bei der Errichtung neuer Abteilungen und Studiengänge. In der Folgezeit kam es zu geradezu hektischen Reformaktivitäten, vor allem an den Staatlichen Universitäten, um sich möglichst schnell an die neuen Richtlinien anzupassen. Besonders beliebt war und ist teils noch die Errichtung neuer Abteilungen und Studiengänge, um die Attraktivität der Universität zu steigern, wobei man diese Attraktivität oft durch ebenso populäre wie nichtssagende Bezeichnungen zu erreichen sucht, etwa „Fakultät für Gesamtpolitik“ (Sōgōseisaku Gakubu) oder „Fakultät für Umwelt Information“ (Kankyōjōhō Gakubu). Sehr beliebt ist in diesem Zusammenhang auch das Wort „international“.

3. Erfolg der Reformen?
Nach Angaben des Erziehungsministeriums führten schon 1993 über die Hälfte aller Staatlichen und mehr als ein Drittel der Privatuniversitäten Curriculumreformen durch. Vier Jahre später stieg diese Zahl nach der gleichen Quelle auf etwa 97% aller Hochschulen. Andere Reformen betrafen zum Beispiel die Ausweitung konkreter Maßnahmen zur Erhöhung der Qualität der Lehre (1997: Erstellung von Syllabi 92%, Faculty Development Maßnahmen etwa ein Drittel, Bewertung der Lehrveranstaltungen durch Studenten knapp die Hälfte aller Universitäten), eine weitergehende Öffnung der Universitäten (etwa durch gegenseitige Anerkennung von Lehrveranstaltungen: 1997 knapp 60% der Universitäten) und eine verstärkte Qualitätskontrolle durch Selbstevaluierung (1997 etwa 88%).
Diese Statistiken geben ein überwiegend sehr positives Bild, aber man darf dabei nicht übersehen, wie die Zahlen zustande gekommen sind. Die Fragebögen, die das Erziehungsministerium für seine statistischen Erhebungen gebraucht, benutzen meist vorsichtige Formulierungen. Schon ein einziger Fall in einer bestimmten Kategorie, etwa Studentenaustausch mit einer einzigen Universität im Ausland, kann eine positive Antwort erlauben, nämlich dass ein internationaler Studentenaustausch besteht. Der tatsächliche Umfang und erst recht die Qualität der durchgeführten Reformen lassen sich daraus in vielen Fällen nicht entnehmen. Spricht man mit Kollegen und Studenten anderer Universitäten offen über diese Fragen, so ergibt sich meist ein weit weniger positives Bild des tatsächlich Erreichten. Ein Erfolg oder auch Misserfolg der Reformen lässt sich statistisch nur schwer erfassen. Evaluierungen der einzelnen Universitäten durch unabhängige Gutachter würden hier sehr viel weiterhelfen. Die Daigaku Kijun Kyōkai (Japanese University Accreditation Association), nach amerikanischem Vorbild gegründet, hat zu diesem Zweck eine sehr ausführliche Checkliste und entsprechende Richtlinien erstellt und bemüht sich seit einigen Jahren, in größerem Umfang solche Evaluierungen durchzuführen. Jedoch geschieht dies nur auf Wunsch (doch auch unter wachsendem Druck), und es bleibt der Universität überlassen, ob sie die Ergebnisse veröffentlicht. Die Zahl der Evaluierungen wächst, aber nur wenige Privatuniversitäten (doch immerhin 40% der Staatlichen) haben bisher die Ergebnisse publik gemacht.   
Von ganz anderer Seite gibt es allerdings eine Reihe von Daten, die bis zu einem gewissen Grad Rückschlüsse auf die tatsächliche Situation an den Universitäten zulassen. Seit längerer Zeit schon werden Befragungen von Studenten durchgeführt, bei denen es zumeist darum geht, den Grad ihrer Zufriedenheit mit der Ausbildung an ihrer Universität festzustellen. Umfangreiche Befragungen dieser Art wurden 1997 von zwei im Erziehungsgeschäft sehr einflussreichen Firmen durchgeführt und im Frühjahr 1998 veröffentlicht, und zwar von der Benesse Corporation (Befragungsergebnisse von 14654 Studenten an 191 der wichtigsten Universitäten, insgesamt 55 Fragen) und Recruit (16422 Studenten an 252 Universitäten, 88 Fragen). Methodisch lässt sich einiges gegen diese Befragungen sagen, da nicht klar ist, wie die Studenten ausgewählt wurden und welche Wertmaßstäbe angelegt wurden, aber für die Situation der japanischen Universitäten insgesamt dürfte sich aus den Daten doch ein im Wesentlichen zutreffendes Bild ergeben. In vielen Punkten stimmen die Ergebnisse beider Befragungen überein. Es zeigt sich, dass aus der Sicht der Studenten zwar einiges getan wurde, dass aber weiterhin die Qualität der Lehrveranstaltungen und die Betreuung durch den Lehrkörper überwiegend negativ bewertet werden. Hier ist also noch keine positive Auswirkung der Reformen erkennbar. Lediglich bei der Ausstattung der Universitäten, beim Service, etwa der Bibliotheken, und im Hinblick auf eine etwas größere Flexibilität innerhalb des Curriculums gibt es positive Tendenzen.
Dass eine überwiegend negative Bewertung des bisherigen Erfolgs der Reformen so falsch nicht sein kann, wird auch aus dem im Juni 1998 dem Erziehungsminister vorgelegten Zwischenbericht des Universitätsrats deutlich. Dort wird auf die erheblichen Unterschiede zwischen den Universitäten in Bezug auf den Reformwillen hingewiesen, auf das oft mangelnde Verständnis der einzelnen Professoren, das die Reformbestrebungen hindere, und auf die Tatsache, dass die Universitäten immer noch nicht genügend auf die vielfältige Kritik aus der Gesellschaft reagiert hätten. Zudem seien die Professoren zu sehr nur an der Forschung interessiert und fühlten sich nicht genug verantwortlichfür den Erziehungsauftrag der Universität*. In der Endfassung des Gutachtens, die im Oktober 1998 vorgelegt wurde, erscheint diese Kritik interessanterweise ziemlich abgeschwächt, wobei aber wohl kaum anzunehmen ist, dass sich die Lage in den wenigen Monaten entsprechend gebessert hätte*.
Auch in ihrem Anspruch ist die Endfassung zurückhaltender als der Zwischenbericht. Während der Titel des Gutachtens weiterhin von der Universität des 21. Jahrhunderts spricht, wird das Problem im Text, im Gegensatz zum Zwischenbericht, auf die Lage am Beginn des neuen Jahrhunderts beschränkt*. Ohnehin handelt es sich bei den aufgezeigten Problemen im Wesentlichen um Fragen, die bereits seit längerer Zeit im Zusammenhang mit der Universitätsreform diskutiert werden und kaum um zukunftsweisende Neuorientierungen. Einerseits fordert der Universitätsrat wie bisher für die Universitäten  mehr Unabhängigkeit, Eigeninitiative und Vielfalt in den Erziehungszielen und erwartet ferner eine Steigerung der Qualität in Forschung und Lehre mit dem Ziel, junge Menschen auszubilden, die umfassend gebildet, selbständig und flexibel die Probleme des nächsten Jahrhunderts anpacken. Andererseits fordert man - und hier deutet sich eine gewisse Ungeduld mit dem schleppenden Gang der Reformen an - strengere Leistungskontrollen sowohl bei den Studenten als auch beim Lehrkörper, mehr Befugnisse und stärkere Führungskraft an der Universitätsspitze sowie vermehrt Evaluierung durch Gutachter von außen*.
Auf die Vielzahl der im Gutachten des Universitätsrats angesprochenen Probleme und Vorschläge kann hier im Einzelnen nicht eingegangen werden. Einige von ihnen sollen im Folgenden im Zusammenhang mit für die Universitätsreform in Japan besonders wichtig erscheinenden Einzelproblemen diskutiert werden.

4. Einzelprobleme
Aufnahmeprüfungen
Das größte Problem für die japanischen Universitäten, nämlich das System der Aufnahmeprüfungen, wird im neuesten Gutachten des Universitätsrats gar nicht diskutiert. Es soll aber ab jetzt im Zentralrat für Erziehung intensiv beraten werden. Die bekannte „Hölle“ der Aufnahmeprüfungen an den japanischen Universitäten wird seit Jahren von vielen Seiten kritisiert, geändert hat sich aber wenig. Die fast nur auf Abfrage von Kenntnissen ausgerichteten Prüfungen führen dazu, dass an den Schulen vornehmlich Wissen eingepaukt wird und wenig Raum bleibt für eine umfassende und freie Entfaltung der Persönlichkeit der Schüler. Zudem sind diese, wenn sie es endlich in eine Universität geschafft haben, oft interesselos und kaum noch motivierbar. Zur Auswahl verschiedenartiger für ein Universitätsstudium geeigneter Begabungen eignen sich die japanischen Aufnahmeprüfungen kaum. Immerhin versuchen die Universitäten in den letzten Jahren vermehrt, andere Auswahlverfahren einzuführen. Neben dem immer schon praktizierten System, einen Teil der Bewerber direkt aufgrund von Empfehlungen bestimmter Schulen aufzunehmen, gehören dazu vor allem Auswahlgespräche und Klausuren, manchmal auch die Berücksichtigung besonderer, oft auch nicht akademischer, Fähigkeiten. Diese Verfahren sind aber zumeist sehr aufwendig und lassen sich schwer für Tausende von Bewerbern an einer Universität durchführen. Auch ist hierbei eine objektive, auf gleichen Kriterien beruhende Bewertung besonders schwierig.
Wegen der zunehmend geburtenschwächeren Jahrgänge wird der Zugang zu nicht so hoch eingestuften Universitäten immer leichter. Schon bald werden diese gar keine Auswahl mehr treffen können, sondern froh sein, wenn sie noch genug Studenten finden, um die freien Plätze zu füllen. Das führt mit Sicherheit zu einem bereits jetzt erkennbaren deutlichen Absinken des Niveaus. Ziemlich schnell wird sich daher wohl eine Zwei-Klassen-Gesellschaft entwickeln aus relativ wenigen Eliteuniversitäten mit weiterhin strengen Auswahlverfahren und dem Großteil der Universitäten, bei denen der Schwierigkeitsgrad der Aufnahmeprüfungen immer weniger wichtig wird gegenüber anderen Faktoren, die die Universität attraktiv machen*.

Öffnung der Universitäten?
Immer wieder wird im Zusammenhang mit der Universitätsreform eine stärkere Öffnung der Hochschulen gefordert. Japan hat hier einen großen Nachholbedarf gegenber den meisten Ländern. Was zum Beispiel in Deutschland ohne große Schwierigkeiten möglich ist, nämlich der Wechsel der Universität unter Anrechnung der vorherigen Studienzeiten und das Belegen von Lehrveranstaltungen an anderen Universitäten, war bisher in Japan nur sehr begrenzt möglich. Auch die Reformbestrebungen haben daran bisher nichts Entscheidendes geändert, doch ist immerhin einiges in Bewegung geraten. Erheblich verbessert haben sich die Möglichkeiten der Weiterbildung an den Universitäten, aber auch hier schließt Japan allenfalls zu anderen Ländern auf, und zudem ist die Erschließung weiterer Personenkreise angesichts sinkender Schülerzahlen natürlich ganz im Interesse der Hochschulen.
Hierher gehört auch die stärkere Öffnung der japanischen Universitäten für ausländische Studenten. Der ursprüngliche Plan von 1983 sah eine Ausweitung von damals 20.000 auf 100.000 im Jahr 2000 vor*. Anfangs stieg die Zahl der ausländischen Studenten auch erwartungsgemäß bis über 50.000, begann dann aber wieder leicht zu sinken, so dass das ursprüngliche Ziel mit Sicherheit nicht erreicht wird. Wirtschaftliche Gründe spielen dabei sicherlich eine Rolle, aber auch die Tatsache, dass viele Studiengänge im internationalen Kontext nicht besonders attraktiv erscheinen. Hier bleibt im Hinblick auf die wachsende weltweite Konkurrenz der Universitäten noch viel zu tun in Japan. Auch die anderen Aspekte der in Japan viel beschworenen „Internationalisierung“ (kokusaika), wie internationaler Studentenaustausch, Zahl der ausländischen Hochschullehrer oder Gebrauch des Englischen, geben kaum Anlass, von einer wirklichen Internationalisierung zu sprechen*.

Curriculumreform
Die Deregulierung in den Richtlinien für Universitätsgründungen hat beim Curriculum zu erheblichen Veränderungen geführt, besonders durch die Abschaffung der Allgemeinen Bildung als gesondertes Programm (kyōyōbu) in den ersten beiden Studienjahren. Das Ziel der Reformen wurde damit aber kaum erreicht. Im Gegenteil, statt der erhofften Stärkung und Ausweitung der Allgemeinen Bildung wurde diese mit wenigen Ausnahmen abgebaut oder allenfalls wie bisher belassen*. Das war vorauszusehen und wohl auch unvermeidlich, solange die Allgemeine Bildung als zweitklassig gegenber der Spezialausbildung angesehen wird und solange man nicht erkennt, dass sie besondere Ansprüche an die Qualität der Lehre stellt und das Engagement des gesamten Lehrkörpers erfordert. Hier wird noch sehr viel Überzeugungsarbeit zu leisten sein, bevor die erhoffte Integrierung gelingt. Es gibt aber bereits überzeugende Modelle dafür und das neueste Gutachten des Universitätsrats macht zahlreiche Vorschläge in dieser Richtung.

5. Ausblick: Wieweit sind Reformen in Japan möglich?
Die Frage nach der Möglichkeit von Hochschulreformen stellt sich auch auf dem Hintergrund der Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen von Reform in Japan überhaupt. Ich erinnere mich noch gut an meine ersten Jahre an einer japanischen Universität und wie ich nach vielen, oft schier endlosen, Diskussionen in Fakultätssitzungen zu der Überzeugung kam, dass man in Japan ein bestehendes System offenbar nicht ändern kann und dass Reformen daher allenfalls über Neugründungen möglich seien. Dazu passt, wie anfangs erwähnt, dass damals in den siebziger Jahren die Hochschulen in Japan nicht zu den  allgemein als notwendig erachteten Reformen zu bewegen waren und dass diese dann über verschiedene Neugründungen versucht wurden. Da auch sonst in der japanischen Geschichte häufig zu beobachten ist, dass Altes nicht einfach durch Neues ersetzt wird, sondern eher, dass das Neue sich neben dem Alten durchsetzt, ist man geneigt, hier ein kulturspezifisches japanisches Phänomen zu sehen. Wie soll man dann aber etwa die Tatsache beurteilen, dass es in letzter Zeit in Deutschland angesichts des Reformstaus an den Universitäten eine wachsende Zahl von neu gegründeten privaten Universitäten mit Reformcharakter gibt, also ein Phänomen ähnlich dem im Japan der siebziger Jahre?
Die Situation ist offenbar zu komplex, als dass sie sich einfach in ein kulturelles Raster einordnen ließe. Einerseits ist die oben angesprochene Tendenz weiterhin vielfach erkennbar. Die zahlreichen neu gegründeten Abteilungen, in denen die japanischen Universitäten neue Ideen zu verwirklichen suchen, belegen das. Andererseits hat es aber auch an den bestehenden Universitäten bedeutsame strukturelle und andere Veränderungen gegeben. Die Abschaffung der Allgemeinen Bildung als gesondertes Programm in den ersten beiden Studienjahren hat zu erheblichen Veränderungen des Curriculums und der Personalstruktur geführt. Da die damit angestrebten Reformziele nicht erreicht wurden hat, wie oben erwähnt, andere Gründe. Auch die Kritik an der im Allgemeinen nur schleppenden Durchführung der Reformen darf nicht übersehen, dass doch in den letzten Jahren ein deutlicher Bewusstseinswandel stattgefunden hat. Hier durch Druck und Kontrolle nachzuhelfen, wie es Universitätsrat und Erziehungsministerium letzthin offenbar versuchen, muss nicht unbedingt der richtige Weg sein.
Ganz erheblicher und zunehmend stärkerer Druck in Richtung Reform und Veränderung entsteht ohnehin schon durch die schwierige finanzielle Lage der Universitäten, bedingt durch Wirtschaftskrise und abnehmende Schülerzahlen, und durch die damit zusammenhängende verschärfte Konkurrenz der Universitäten untereinander. Das kann dazu führen, dass vor allem wirtschaftliche Faktoren die Neuerungen an den Universitäten bestimmen. (Nicht umsonst machen auch die neu gegründeten privaten Hochschulen in Deutschland den staatlichen besonders in den Fächern Konkurrenz, die finanziell attraktiv sind.)  Viel wird darauf ankommen, inwieweit es gelingt, zwischen Universitäten und Ministerium, Eltern, Studenten, Arbeitgebern sowie der Öffentlichkeit insgesamt gemeinsam Bildungsziele zu entwickeln, an denen die Hochschulen in Zukunft gemessen werden. Dazu gehört die Entwicklung von Kriterien und Verfahren zur Evaluierung der Universitäten, die der Öffentlichkeit ein objektives Bild der Qualität und der Besonderheit der Ausbildung an den einzelnen Hochschulen vermitteln. Angesichts der massiven wirtschaftlichen Interessen im Bildungsbereich dürfte das allerdings keine leichte Aufgabe sein.
Dabei sind die eigentlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in der japanischen Reformdiskussion erst gerade in den Blick gekommen, werden aber noch kaum ernsthaft erörtert. Ich meine die zunehmende Globalisierung und die neuen technischen Möglichkeiten der Kommunikation, die diesen Trend verstärken. Noch sind die Folgen dieser Entwicklung kaum abzusehen. Einige sprechen bereits vom Ende der traditionellen Hochschulen und ihrem Ersatz durch Virtuelle Universitäten. Jedenfalls werden sich Japans Universitäten einer zunehmend Konkurrenz durch Universitäten in vielen Ländern ausgesetzt sehen und sie werden sich auf die Herausforderungen eines weltweiten, erstklassigen und zugleich kostengünstigen Bildungsangebots über die neuen Medien einstellen müssen. In Bezug auf diese Probleme gibt es erst wenig Bewegung in Japan und die Gefahr besteht, dass über der Diskussion der verschleppten Probleme der Vergangenheit die für das 21. Jahrhundert notwendigen Veränderungen im Bildungssystem zu spät in den Blick kommen.    



Literatur
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