Kafka lesen: Vor dem Gesetz, neue textbegleitende Interpretation - Was aus meinen Träumen wurde

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Kafka lesen: Vor dem Gesetz (1914)
[Der Titel stammt von Kafka. Deshalb lohnt es sich, genau wie etwa auch bei Auf der Galerie, kurz darüber nachzudenken. Kafka hätte ja auch zum Beispiel Der Türhüter (vor dem Gesetz) wählen können. So sehen es ja auch die meisten Interpreten, die, geleitet durch den Mann vom Lande, ganz auf den Türhüter fixiert sind. Kafkas Titel aber lenkt den Blick auf das, was die Voraussetzung für die im Text beschriebene Situation ist. Der Ausdruck vor dem Gesetz kommt praktisch nur in einem einzigen, aber dafür umso wichtigeren, Satz vor: Vor dem Gesetz sind alle (Staatsbürger) gleich. Ich bin mir sicher, dass Kafka den inneren Widerspruch in diesem Satz bemerkt hat. Das Gesetz soll die Gleichheit aller garantieren. Aber wenn alle vor dem Gesetz sind, dann sind sie außerhalb und damit vom Gesetz ausgeschlossen. Noch schärfer gesagt, sie sind in einem Bereich, wo statt Recht und Gesetz Macht und Willkür herrschen. Das zeigt sich im Verhältnis zwischen dem Mann vom Lande und dem Türhüter. Auch der Grund dafür ist in dem vor erkennbar. Das Gesetz wird vorgestellt als eine höhere Macht, wie ein König auf seinem Thron, was ja bis heute auch in vielen Gerichtssälen durch den erhöhten Sitz des Richters ausgedrückt wird.]
[Drucke zu Lebzeiten: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen: Vor dem Gesetz (1919 [1912])][siehe]
Vor dem Gesetz steht ein Türhüter.
[Der Form nach ist dies eine objektive Aussage als Ausgangspunkt für das Folgende. Im Zusammenhang mit den nächsten Sätzen ist aber klar, dass es sich um die Innensicht des Mannes vom Lande handelt, seine Sicht der Welt. Er sieht das Gesetz nicht als einen Raum im übertragenen Sinn, einen Bereich, in dem alle in gleicher Weise vom Gesetz geschützt werden, sondern stellt es sich konkret räumlich vor, etwa wie ein Respekt einflößendes Gerichtsgebäude, wozu dann auch der Türhüter passt.]

Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz.
[Statt einfach einzutreten oder nur sicherheitshalber den Türhüter etwa zu fragen, ob er hier richtig ist, empfindet der Mann vom Lande offenbar soviel Respekt und wohl auch Furcht, dass er den Türhüter um den Eintritt bittet. Damit überträgt er diesem eine Autorität, von der gar nicht klar ist, ob diese außerhalb des Vorstellungsbereichs des Mannes überhaupt existiert. Sind es die feudalistischen Vorstellungen in seinem Kopf, die Akzeptanz autoritärer Strukturen, die ihn dazu bringen?]

Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. "Es ist möglich", sagt der Türhüter, "jetzt aber nicht."
[Der Türhüter probiert gleich, wieweit seine Macht gegenüber dem Mann reicht und verwehrt ihm den Eintritt. Zugleich hält er ihn hin mit dem „jetzt nicht“ und dem vagen „es ist möglich“. So sichert er sich die weitere Kontrolle über den Mann. Dass das funktioniert, zeigt sich an der Frage des Mannes. Dieser „überlegt“ zunächst. Hier hätte man eine kritische Überlegung erwarten können, die die Situation insgesamt hinterfragt, aber an dieser Stelle ist mit dem Überlegen wohl nur ein kurzes Zaudern gemeint.]

Da  das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: ""Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen."""
[Hier zeigt sich deutlich, wie sehr die Macht des Türhüters nun angewachsen ist. Er kann es sich leisten beiseite zu treten und den Mann höhnisch aufzufordern, doch einzutreten. Dessen gebückte Haltung zeigt seine Unterwürfigkeit. Dass der Türhüter von „meinem Verbot“ sprechen und sich selbst „mächtig“ nennen kann und dass es auch bei den anderen Türhütern nur um Macht aufgrund von Furcht geht, macht deutlich, wie sehr wir uns hier außerhalb des Gesetzes in einer Welt autoritärer Mächte befinden. All das natürlich aus der Innensicht des Mannes vom Lande. Und wie sehr dies alles in eine längst vergangene Zeit gehören sollte, wird an dem aus Märchen bekannten Motiv von den „Türhütern, einer mächtiger als der andere“ deutlich.]

Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine grosse Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschliesst er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt.
[Mit dem Wort „Schwierigkeiten“ versucht der Mann, seine hoffnungslose Lage herunterzuspielen. Aber der zaghafte Versuch, zu denken und sich dabei auf sein Recht zu berufen, wird erstickt von der Angst vor der, wie er es sieht, Furcht einflößenden Gestalt des Türhüters.]

Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten.
[Der Türhüter hat den Mann nun so sehr unter Kontrolle, dass er ihm ein paar kleine Annehmlichkeiten gewähren kann. Der Mann ist offenbar nicht mehr in der Lage, sich dieser Kontrolle zu entziehen und so vergehen Jahre. Wie abhängig er ist, zeigt sich auch an seinen Schuldgefühlen gegenüber dem Türhüter (ermüdet den Türhüter).]

Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie grosse Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, dass er ihn noch nicht einlassen könne.
[Hier sind wir in der Vorstellung des Mannes endgültig in einer autoritärem Gesellschaft angekommen: „große Herren“, „Verhöre“, „teilnahmslose Fragen“. Das „noch nicht“ erweist sich spätestens am Ende als eine Lüge, mit der der Türhüter den Mann an sich binden will.]

Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: ""Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.""
[Hier begibt sich der Mann, der ja eigentlich nach dem Gesetz strebt, nun auch selbst in die Sphäre der Gesetzlosigkeit, indem er den Türhüter zu bestechen versucht.]

Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergißßt die andern Türhüter und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen.
[Durch die Fixierung auf den Türhüter engt sich die Welt des Mannes immer mehr ein und er wird schließlich kindisch. Mit geradezu sarkastischer Ironie wird hier das Ende eines verfehlten Lebens beschrieben, wobei sich der Erzähler langsam von der Innensicht des Mannes löst.]

Schliessßlich wird sein Augenlicht schwach, und er weissß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange.
[Kurz vor seinem Tod, als er auch seinen Augen nicht mehr trauen kann, glaubt er dennoch einen überirdisch vorgestellten Glanz aus der Tür des Gesetzes erkennen zu können, eine Vision, die offenbar seiner Sehnsucht nach dem Gesetz enstspringt. In der Außensicht vermehrt das die Zweifel an seinem Geisteszustand, es sei denn, man glaubt an die Möglichkeit einer besonderen Erleuchtung in der Todesphase.]

Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter mussß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Grössßenunterschied hat sich sehr zu ungunsten des Mannes verändert. ""Was willst du denn jetzt noch wissen"?" fragt der Türhüter, ""du bist unersättlich."" ""Alle streben doch nach dem Gesetz", sagt der Mann, "wieso kommt es, daßß in den vielen Jahren niemand ausser mir Einlass verlangt hat?"?"
[Ausgerechnet als sein Körper schon erstarrt, kommt von dem Mann doch noch eine Frage, die er natürlich lange vorher hätte stellen sollen. Die Antwort ist dann so etwas wie der Todesstoß für ihn.]

Der Türhüter erkennt, dassß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: ""Hier konnte niemand sonst Einlassß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schliessße ihn.""
[Jede/r hat einen eigenen Zugang zum Gesetz. Man kann ihn nur jede/r selbst erlangen, man kann ihn aber auch sich selbst verstellen, wie der Mann vom Lande. Ist es das, was Kafka hier sagen will? Jedenfalls muss man sich, um den Zugang zu ermöglichen, von feudalistischen und autoritären Denkstrukturen befreien und muss kritisch und furchtlos die eigenen Möglichkeiten erkennen. Vor allem darf man nicht wie der Mann vom Lande die Verantwortung auf andere abschieben, sondern muss vielmehr selbst verantwortlich handeln. Ist das, sehr vereinfacht, die „Moral von der Gechichte“? Dafür spricht, dass im Prozeß der Geistliche im Dom K. ermahnt: „Du suchst zuviel fremde Hilfe“ und ihm dann unsere Geschichte erzählt.]
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