Prometheus, Das Schweigen der Sirenen, Auf der Galerie - Was aus meinen Träumen wurde

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Mythos und Tradition bei Kafka
(Vortrag 2004)
Gerhard Schepers
  
Walter Benjamin hat in einem Aufsatz, der zu den wichtigsten der frühen Kafka-Deutung gehört, aufgezeigt, in wie hohem Maße in Kafkas Welt das gegenwärtig ist, was er mit einem Wort Kafkas als „Vorwelt” bezeichnet, Zustände, Verhältnisse der Gegenwart, die bis weit in die Vergangenheit zurückgehen. Diese Anwesenheit des Alten und Uralten im Gegenwärtigen ist wesentlich zum Verständnis von Kafkas Texten.
Damit stellt sich nun die Frage, was Mythos und Tradition in diesem Zusammenhang für Kafka bedeuten. Das Wort „Mythos” selbst kommt in Kafkas Texten überhaupt nicht vor, „Mythologie” nur einmal in den Tagebüchern. Von „Tradition” spricht Kafka in den Werken und Tagebüchern nur zwölfmal, davon nur einmal in einem Text nicht aus dem Nachlass. Wichtig darunter ist nur ein kürzerer Text, Zur Frage der Gesetze (Text s. u.), wo das Wort allein sechsmal vorkommt. Es geht in dieser Skizze um die Frage, ob in einem Volk, das seit alters her vom Adel beherrscht wird, überhaupt Gesetze existieren. „Unsere Gesetze sind leider nicht allgemein bekannt, sie sind Geheimnis der kleinen Adelsgruppe, welche uns beherrscht. Wir sind davon überzeugt, daß diese alten Gesetze genau eingehalten werden, aber es ist doch  etwas äußerst Quälendes nach Gesetzen beherrscht zu werden, die man nicht kennt.” Gegen die Herrschaft des Adels wehrt man sich nicht, obwohl man sie als Qual empfindet. Man akzeptiert vielmehr, dass die Gesetze „von ihrem Beginne an für den Adel festgelegt worden [sind], der Adel steht außerhalb des Gesetzes und gerade deshalb scheint das Gesetz sich ausschließlich in die Hände des Adels gegeben zu haben. Darin liegt natürlich Weisheit -- wer zweifelt die Weisheit der alten Gesetze an? -- aber eben auch Qual für uns, wahrscheinlich ist das unumgänglich.” Und am Ende gesteht man schließlich, dass „den Adel niemand zu verwerfen wagt.”
Statt den Adel zu verwerfen, verwendet man alle Kraft darauf, die Gesetze zu erkennen und für sich nutzbar zu machen. An kritischen Einsichten und Einwänden fehlt es nicht. Man weiß, es geht um „Schein-Gesetze”, die „eigentlich nur vermutet werden [können]”. Trotz aller Anstrengungen „ist das alles höchst unsicher und vielleicht nur ein Spiel des Verstandes, denn vielleicht bestehen diese Gesetze die wir hier zu erraten suchen überhaupt nicht.” Ja manche glauben sogar: „Was der Adel tut, ist Gesetz.” und sehen „nur Willkürakte des Adels”. Doch man hält sich an die „Volkstradition” als etwas, das sich „seit ältesten Zeiten” so entwickelt hat. „Es ist eine Tradition, daß sie [die Gesetze] bestehn und dem Adel als Geheimnis anvertraut sind,” eine „alte und durch ihr Alter glaubwürdige Tradition”. Das akzeptiert man, will aber in den Besitz der Gesetze gelangen, indem man diese zu erkennen versucht. So erklärt sich, dass „wir im Volk also seit ältesten Zeiten die Handlungen des Adels aufmerksam verfolgen, Aufschreibungen unserer Ureltern darüber besitzen und sie gewissenhaft fortgesetzt haben”. Auch das ist bereits wieder zu einer Tradition geworden, man erforscht diese und sieht in ihr, die „noch bei weitem nicht ausreicht”, eine Aufgabe noch für Jahrhunderte. „Das für die Gegenwart Trübe dieses Ausblicks” wird kompensiert durch eine irrationale Hoffnung, den Glauben, „daß einmal eine Zeit kommen wird, wo die Tradition und ihre Forschung gewissermaßen aufatmend den Schlußpunkt macht, alles klar geworden ist, das Gesetz nun dem Volk gehört und der Adel verschwindet.”
Hier stehen sich also eine kritisch-rationale, auf Änderung der Verhältnisse zielende Haltung und eine tradionsgebundene, die seit alters bestehenden Verhältnisse akzeptierende und sich in sie einfügende Haltung gegenüber, wobei letztere sich durchsetzt, wie sie sich immer durchgesetzt hat, weil der Adel schließlich doch das „einzige sichtbare zweifellose Gesetz” ist. So bleibt die „Vorwelt” weiterhin präsent.
Ebenfalls nur gelegentlich gebraucht Kafka den Begiff „Überlieferung”, oder die Partizipialform „überliefert” (15mal, davon 12mal im Nachlass), wobei es meist um verschiedene Formen kultureller Überlieferung geht, etwa im Brief an den Vater um das „Glaubensmaterial” und das „Judentum”, das ihm sein Vater hätte überliefern sollen. Interessant ist hier Kafkas Meinung zur Geschichte: „Die geschriebene und überlieferte Weltgeschichte versagt oft vollständig, das menschliche Ahnungsvermögen aber führt zwar oft irre, führt aber, verlässt einen nicht.” (Zitat s. u.)



Die für unseren Zusammenhang wichtigste Stelle findet sich aber in dem Stück Elf Söhne. Dort beschreibt ein Vater die Eigenschaften seiner elf Söhne und charakterisiert dabei den siebten Sohn unter anderem so: „Sowohl Unruhe bringt er, als auch Ehrfurcht vor der Überlieferung, und beides fügt er, wenigstens für mein Gefühl, zu einem unanfechtbaren Ganzen.“ (s. u.) Auffallend ist natürlich vor allem, dass Kafka hier von „Ehrfurcht vor der Überlieferung” spricht.
Der ganze Text erscheint recht rätselhaft, und es bedurfte einiger Detektivarbeit der Kafka-Forschung, um hier eine, zumindest mögliche, Lösung des Rätsels zu finden. Nach Malcolm Pasley handelt es sich bei Elf Söhne um eine Mystifikation (M. Pasley, "Drei literarische Mystifikationen Kafkas, in: Kafka-Symposion, Berlin, 1965, S. 21-26). Die Söhne entsprechen elf Erzählungen des Sammelbandes Ein Landarzt, sind also Selbstkommentare zu den betreffenden Stücken, wobei der siebte Sohn dem Stück Auf der Galerie entspricht.
Damit sind wir bei einem der bekanntesten und meist-interpretierten Stücke Kafkas. Auf der Galerie besteht aus nur zwei Absätzen, die jeweils von einem langen Satz gebildet werden. Beschrieben wird zweimal derselbe Vorgang in einer Zirkusmanege aus der Sicht eines Galeriebesuchers. Eine lange gängige Interpretation sieht im ersten Abschnitt die Beschreibung eines kritischen Bewusstseins, daß einen unerträglichen sozialen Missstand aufdeckt und einschreitet, um ihn zu verhindern. Im zweiten Absatz dagegen handele es sich um die Beschreibung des schönen Scheins, der die grausame Wirklichkeit dahinter verdecke. Dies ahnt der Galeriebesucher am Ende, aber im Weinen versinkend bleibt er unfähig zu handeln. Das ist eine pädagogisch sehr wirksame Interpretation, bei Gymnasiallehrern daher beliebt, aber leider sagt Kafkas Text fast das genaue Gegenteil. Dem entspricht auch der (bei Kafka ganz besonders) negative Begriff der „Unruhe” in Elf Söhne in Bezug auf den ersten Absatz des Stücks, und die deutlich positivere Charakterisierung des zweiten Absatzes als „Ehrfurcht vor der Überlieferung”.
Was kann aber mit diesen Begriffen, insbesondere dem zweiten, der in unserem Zusammenhang besonders interessiert, gemeint sein? Ich kann hier nur die Ergebnisse darlegen von Untersuchungen, die ich anderswo dargestellt habe. Danach ergibt sich: Es geht in Auf der Galerie um zwei gegensätzliche Grundhaltungen, zwei unterschiedliche Möglichkeiten, sich zur Wirklichkeit zu verhalten.
Die Haltung im ersten Absatz ist bestimmt durch kritisch-rationale Distanz zur Wirklichkeit, durch zergliedernde Analyse und logische Zusammenhänge als Grundlage für rational-verantwortliches Handeln und durch aktives Engagement, aber auch durch Schwarz-Weiß-Malerei und ideologische Überformung der Wirklichkeit und letztlich Scheitern an der Wirklichkeit. Die Haltung im zweiten Absatz ist gekennzeichnet durch Annehmen der Wirklichkeit so wie sie ist, und durch ein passives Aufnehmen der Bilder, die sich impressionistisch, ohne logische Verknüpfung aneinanderreihen. Mögliche Widersprüche zum schönen Schein des Zirkus werden durchaus erahnt und erspürt, bleiben aber in der Schwebe. Auch das Weinen am Ende bleibt in seinen negativen oder positiven Implikationen unbestimmt, es zeigt ein tiefes, emotional bestimmtes Verhältnis zur Wirklichkeit, das aber in seiner Unbestimmtheit keine Grundlage bilden kann für verantwortliches Handeln.
Der hier aufgezeigte Gegensatz findet seine Entsprechung in den damals wie auch heute oft noch beliebten Gegensatzpaaren von männlich-weiblich, animus und anima, aktiv-passiv, rational-emotional, kritischer Distanz und Einfühlung, um nur einige zu nennen. Besonders seit der Zeit des Exotismus wird dieses Schema auch gerne auf den Gegensatz zwischen West und Ost, beziehungsweise zwischen dem Westen und Japan angewandt. Bis heute lebt es fort in den sogenannten Nihonjinron, den Japaner-Diskursen und in populären Stereotypen und Klischees in Bezug auf Japan.
Dabei sind solche Vorstellungen nicht ganz unberechtigt. Was Kafka im zweiten Absatz beschreibt, zeigt tatsächlich eine gewisse Nähe zu Sprach- und Verhaltensformen in Japan, die zumindest in der Hauptströmung der europäischen Kultur nicht so ausgeprägt sind. Während der erste Absatz grammatikalisch und logisch klar durchstrukturiert ist, löst sich die Struktur im zweiten Abschnitt schnell auf oder bleibt zumindest in der Schwebe. Die erwartete logische Begründung des „Da es aber nicht so ist” am Anfang wird nach einer langen Reihe von Bildern geradezu tautologisch am Ende wieder aufgenommen mit „da dies so ist”, wobei „dies” und „so” sich nicht auf analytisch herausgearbeitete Sachverhalte beziehen, sondern beide auf die gleiche vom Galeriebesucher erfahrene Wirklichkeit so wie er sie erfährt; sonomama könnte man auf Japanisch sagen und in Bezug auf das Weinen etwa auf den japanischen Begriff mono no aware hinweisen.
Dass man den hier von Kafka in den beiden Abschnitten dargestellten Gegensatz nicht einfach auch als Unterschied zwischen Ost und West, zwischen Japan und dem Westen deklarieren kann, braucht hier nicht weiter erörtert zu werden. Wie es weder den Osten noch den West gibt, gibt es auch kein Japan, das man einfach in ein solches Schema einpassen kann. Auf diese Zusammenhänge weist schon Kafkas Text hin, wo man bei genauerem Hinsehen etwa im ersten Absatz auch Elemente der Haltung des zweiten Absatzes finden kann, allerdings verzerrt als Sentimentalität und Irrationalität. (irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin”, „in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte”) Insbesondere wird man sagen müssen, dass die „Unruhe” von der Kafka spricht, sicher auch auf das moderne Japan zutrifft, während die „Ehrfurcht vor der Überlieferung” natürlich auch im modernen Europa zu finden ist, wie überhaupt das ganze Phänomen der Präsenz der „Vorwelt” im modernen Europa, das Kafka so stark herausstellt.
Schließlich gilt es noch festzustellen, dass Kafka die genannten beiden Haltungen in ihrer Gegensätzlichkeit und Einseitigkeit offenbar vor allem deshalb herausarbeitet, weil er auf die Notwendigkeit ihrer Überwindung durch Integration hinweisen will. Das jedenfalls könnte die Bedeutung des Satzes „und beides fügt er, wenigstens für mein Gefühl, zu einem unanfechtbaren Ganzen” in Elf Söhne sein. (Vgl. die Theorie von der Notwendigkeit der Integration von animus und anima bei Jung)
Diese Überlegungen zu Auf der Galerie werfen auch ein Licht auf die zuvor erörterte Skizze Zur Frage der Gesetze. Hier wie dort scheitert das kritisch-rationale Handeln, weil es nicht loskommt von einer „vorweltlichen”, traditionsbezogenen Haltung, die letztlich dann doch die Wirklichkeit so akzeptiert, wie sie ist und seit Urzeiten war. Allerdings hat Jörgen Kobs in einer m. E. bahnbrechenden Untersuchung aufgezeigt, wie man Kafkas Texte, insbesondere auch Auf der Galerie, unterschiedlich lesen kann, entsprechend den beiden in diesem Stück beschriebenen Haltungen. Dann erweist sich etwa das „vielleicht” im ersten Absatz von Auf der Galerie durch logische Analyse gemäß der ersten Haltung als Ausdruck der Verzweiflung in Bezug auf die Möglichkeit menschlichen Handelns. Liest man es aber in der Haltung des zweiten Absatzes, „lässt man sich tragen und mitreißen von dem Ansturm der Bilder, dann gewinnt dieses ,vielleicht’ einen anderen Sinn. In ihm, so spürt man, bricht sich wider alle Vernunft eine unbändige Hoffnung Bahn ...” (J. Kobs, Kafka, Bad Homburg, 1970, S. 88). Vielleicht kann man diese Lesart auch auf die irrationale Hoffnung anwenden, die am Ende von Zur Frage der Gesetze angesprochen wird.
Zwei weitere Texte bei Kafka, in denen von „Überlieferung” gesprochen wird, habe ich noch nicht erwähnt. Sie leiten über zum meinem zweiten Thema, dem des Mythos. Beim ersten dieser Texte handelt es sich um Das Schweigen der Sirenen, einen klassischen Mythenstoff also. Wichtiger ist die andere Stelle die besonders deutlich den Zusammenhang zwischen „Überlieferung” und Mythos bei Kafka zeigt. In seinem letzten Stück, Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, heißt es: „Trotz unserer Unmusikalität haben wir Gesangsüberlieferungen; in den alten Zeiten unseres Volkes gab es Gesang; Sagen erzählen davon und sogar Lieder sind erhalten, die freilich niemand mehr singen kann.” Der Begriff „Sage” wird von Kafka an mehreren Stellen gebraucht, nie aber der Begriff „Mythos”.
In fünf seiner Skizzen beschäftigt sich Kafka mit Motiven der klassischen Mythologie. Vier davon wurden innerhalb eines Jahres geschrieben (Anfang 1917-Anfang 1918). Nach Dietrich Krusche gilt für alle: „Das ... klassische Motiv ist seinem mythischen bzw. historischen Hintergrund entfremdet, ist verändert, umgestaltet, deformiert.” (Dietrich Krusche, „Die kommunikative Funktion der Deformation klassischer Motive”, Der Deutschunterricht, 1973, 130)
Dies gilt laut Krusche besonders für den Text, den ich hier untersuchen möchte, Prometheus [Text s. u., englisch], wo „... mit der Eindeutigkeit des klassischen Motivs der klassische Mythos als solcher völlig aufgelöst” wird (ibid.).
Kafka bezieht sich in dieser Skizze nur auf einen Teil des Prometheus-Mythos, nämlich auf die Bestrafung des Prometheus, von der in vier verschiedenen „Sagen”, wie Kafka es nennt, berichtet wird. Vergleicht man diese vier kritisch-analytisch, in der Haltung des ersten Absatzes von Auf der Galerie, dann entdeckt man Widersprüche und Gegensätze, durch die sich die vier Sagen offenbar gegenseitig aufheben. Damit wird nach Krusche „der Mythos als tradierte Veranschaulichung von Wahrheit aufgelöst, die naive Bilderwelt ... entkonturiert”. „Das klassische Motiv” hat nur noch die Funktion der „Desorientierung”. Diese Interpretation passt gut in das gängige Kafka-Bild, übersieht aber wichtige Elemente im Text. Dass Kafka den klassichen Mythos wesentlich verändert, ist offensichtlich. Nur die erste Sage entspricht der klassischen Tradition. Die weiteren bewegen sich immer weiter weg von dieser. Wenn man dieser Bewegung folgt, ergibt sich eine stufenweise Entwicklung in den vier Sagen von Aktivität zu Passivität, von dynamischen Gegensätzen und von individueller Existenz in der ersten Sage zu deren Auflösung in der vierten, in einem Prozess, in dem die anfänglichen Opponenten schließlich vereinigt sind und der mündet in dem „unerklärlichen Felsgebirge” am Ende. Auch die Zeit dehnt sich immer weiter aus über die Jahrtausende in der dritten Sage bis hin zu dem offenbar schon immer bestehenden und weiter bestehenden Felsgebirge.
Der letzte Satz (Blieb das unerklärliche Felsgebirge.”) ist durch den Absatz und das eigentümliche „Blieb” am Anfang herausgenommen aus der Bewegung der vier Sagen, die in ihm mündet. Von ihm gehen die Erklärungsversuchen im ersten Satz aus und zu ihm führen sie wieder zurück als dem unveränderlichen „Wahrheitsgrund”. Der erste Satz fasst zusammen, worum es bei der Sage geht. „Die Sage versucht, das Unerklärliche zu erklären.” Am Anfang steht das „unerklärliche Felsgebirge”, der „Wahrheitsgrund”. Aus diesem entsteht die Sage. Ihr Versuch, das Unerklärliche zu erklären, kann nur wieder auf das Unerklärliche zurückweisen. Sie muss „wieder im Unerklärlichen enden”.
Dies letztere ist der Vorgang, den Kafka in den vier Sagen beschreibt. Er ist negativ, insofern alles Individuelle, alle Aktivitäten, alles rational und in seinen Beziehungen Erfassbare allmählich verlöscht und wieder in dem unerklärlichen Felsgebirge endet. Da dieses aber zugleich der Wahrheitsgrund ist, kann man den Vorgang auch positiv sehen: Der Prozess der Reduzierung führt nicht zu völliger Auflösung, vielmehr wird etwas sichtbar, das als geradezu unzerstörbar und zeitlos erscheint, das am Ende bleibt als das, was es immer war. Das hat auch Krusche so gesehen, wenn er schreibt: „Unerklärlicher Wahrheitsgrund des Felsengebirges, der alle Ausformungen von Mythen und Mythenabwandlungen überdauert ...” (131).
Was bedeutet das im Hinblick auf den Mythos allgemein? Verformung und Auflösung mythologischer Traditionen und Motive findet man natürlich vielfach, man denke etwa an die Entmythologisierung. Aber Kafkas Behandlung mythologischer Motive kann man nicht in einer Linie damit sehen. Sie bedeutet vielmehr, ganz im Gegenteil, einen radikalen Bruch mit dieser Tradition. Während die Entmythologisierung den Mythos für zu irrational hält und auf einen rational erklärbaren Kern reduzieren will, betrachtet Kafka den Mythos als schon zu rational, zu sehr bemüht, das Unerklärliche zu erklären, und will ihn auf das prä-rationale, prä-mythische zurückführen. Zusammen damit wird auch eine der Hauptströmungen in der europäischen Kultur, die wachsende Betonung des Einzelnen, seiner Freiheit und schöpferischen Energie, zurückgenommen. Die klassische Figur des Prometheus ist zu einem der Symbole für die Rebellion gegen traditionelle Autoritäten geworden. In Goethes gleichnamigem Gedicht verkörpert er das titanische Gefühl des Genies, das aus eigener Kraft schöpferisch tätig wird. Von einer Bestrafung des Prometheus spricht Goethe bezeichnenderweise nicht, wohingegen Kafka dessen Taten unerwähnt läßt. Während Goethes Gedicht mit einem herausfordernden „wie ich” schließt, endet in Kafkas Prometheus alles in dem unerklärlichen Wahrheitsgrund des Felsgebirges.
Die hier angeführten Gegensätze erinnern an die zuvor im Zusammenhang mit Auf der Galerie erwähnten wie aktiv-passiv, männlich-weiblich und die in dem Stück beschriebenen beiden Haltungen. Was dort als zwei gegensätzliche Haltungen beschrieben wird, erscheint hier als allmählicher Übergang von der ersten Haltung zu einem Zustand des Einssein mit Allem, mit dem was, ewig unerklärlich, so ist, wie es ist. Ähnlich versinkt der Galeriebesucher in Auf der Galerie am Ende in einem schweren Traum, weinend, ohne es zu wissen.
Kultur- und insbesondere religionshistorisch könnte man sagen, dass Kafka zurückweist auf eine prä-mythische Zeit, in der der Anblick gewaltiger Berge, uralter Bäume und anderer ungewöhnlicher Naturphänomene (vgl. auch) die Menschen mit ehrfürchtigem Schauder erfüllte. Mythen und Sagen entstanden als man begann, über diese Phänomene nachzudenken und sie einzuordnen. Typisch sind die ätiologischen Sagen, die den Ursprung ungewöhnlicher Namen, Erscheinungen oder Ereignisse zu erklären versuchen. (Vielleicht verwendet Kafka deshalb auch lieber den Begriff „Sage”.) Interessant sollte es auch sein, das was Kafka in Prometheus auszudrücken versucht, zu vergleichen mit ähnlichen Elementen in der japanischen Kultur und Religion, besonders natürlich im Shintō.
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