Kafka,Texte - Was aus meinen Träumen wurde

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Texte Kafkas
In der Reihenfolge ihrer Entstehung

Auszüge aus: Kritische Kafka Ausgabe des S. Fischer Verlages bei Chadwyck-Healey auf CD-ROM, veröffentlicht von Chadwyck-Healey Ltd. Vom S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main lizensierte Edition.  Texte von Franz Kafkas Werken wie in der Kritischen Ausgabe © 1982, 1983, 1990, 1992, 1993, 1994 Schocken Books Inc., New York City, USA.  Kommentare and Apparat © 1982, 1983, 1990, 1992, 1993, 1994 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Electronische Ausgabe © 1999 Chadwyck-Healey Ltd, Cambridge. [Seitenzahlen stehen am Beginn der Seite.]

Drucke zu Lebzeiten: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen: Vor dem Gesetz (1920 [1912])
4 Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter 5 kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in 6 das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den 7 Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und 8 fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. "Es 9 ist möglich", sagt der Türhüter, "jetzt aber nicht." Da 10 das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter 11 beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das 12 Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, 13  lacht er und sagt: "Wenn es dich so lockt, versuche es 14 doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: 15 Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. 16 Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als 17 der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht 18 einmal ich mehr ertragen." Solche Schwierigkeiten hat 19 der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll 20 doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber 21 als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer  22 ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen,
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 1 schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber 2 zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. 3 Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt 4 ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er 5 Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu 6 werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. 7 Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, 8 fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, 9 es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren 10  stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß  11 er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich 12 für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet 13 alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu 14 bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: 15 "Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas 16 versäumt zu haben." Während der vielen Jahre beobachtet 17 der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergißt 18 die andern Türhüter und dieser erste scheint ihm 19  das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er 20 verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren 21 rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er 22 nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in 23 dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe 24 in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, 25 ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. 26 Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß  27 nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn
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1 nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im 2 Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe 3 des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor 4 seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen 5 der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an 6 den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, 7 da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten 8 kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, 9 denn der Größenunterschied hat sich sehr zu ungunsten 10  des Mannes verändert. "Was willst du denn jetzt 11 noch wissen?" fragt der Türhüter, "du bist unersättlich."  12 "Alle streben doch nach dem Gesetz", sagt der 13 Mann, "wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand 14 außer mir Einlaß verlangt hat?" Der Türhüter erkennt, 15 daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um 16 sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn 17  an: "Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn 18 dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt 19 und schließe ihn."
Nachgelassene Schriften und Fragmente I: [19] [„Oktavheft B“] (1916)
Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem 2 Abgrund lag ich, diesseits waren die Fußspitzen, jenseits 3 die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm hatte ich 4 mich festgebissen. Die Schöße meines Rockes wehten zu 5 meinen Seiten. In der Tiefe lärmte der eisige Forellenbach. 6 Kein Tourist verirrte sich zu dieser unwegsamen 7 Höhe, die Brücke war in den Karten noch nicht eingezeichnet. 8 So lag ich und wartete; ich mußte warten; ohne 9 abzustürzen kann keine einmal errichtete Brücke aufhören 10 Brücke zu sein. Einmal gegen Abend, war es der erste 11 war es der tausendste, ich weiß nicht, meine Gedanken 12 giengen immer in einem Wirrwarr, und immer immer in 13 der Runde — gegen Abend im Sommer, dunkler rauschte 14 der Bach, hörte ich einen Mannesschritt. Zu mir, zu mir. 15 Strecke Dich Brücke, setze Dich in Stand, geländerloser 16 Balken, halte den Dir Anvertrauten, die Unsicherheiten 17 seines Schrittes gleiche unmerklich aus, schwankt er aber, 18 dann gib Dich zu erkennen und wie ein Berggott schleudere 19 ihn ans Land. Er kam, mit der Eisenspitze seines 20 Stockes beklopfte er mich, dann hob er mit ihr meine 21  Rockschöße und ordnete sie auf mir, in mein buschiges
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  1 Haar fuhr er mit der Spitze und ließ sie, wahrscheinlich 2 weit umherblickend, lange drin liegen. Dann aber —   3 gerade träumte ich ihm nach über Berg und Tal — sprang 4 er mit beiden Füßen mir mitten auf den Leib. Ich 5 erschauerte in wildem Schmerz, gänzlich unwissend. 6 Wer war es? Ein Kind? Ein Turner? Ein Waghalsiger? 7 Ein Selbstmörder? Ein Versucher? Ein Vernichter? Und 8 ich drehte mich um, ihn zu sehn. Brücke dreht sich um! 9 Ich war noch nicht umgedreht, da stürzte ich schon, ich 10 stürzte und schon war ich zerrissen und aufgespießt von 11 den zugespitzten Kieseln, die mich so friedlich immer 12 angestarrt hatten aus dem rasenden Wasser.
Nachgelassene Schriften und Fragmente II: [2] [„Oktavheft G“] Das Schweigen der Sirenen (1917)
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2 Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische 3 Mittel zur Rettung dienen können.
     4 Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stopfte sich 5 Odysseus Wachs in die Ohren und ließ sich am Mast 6 festschmieden. Ähnliches hätten natürlich seit jeher alle 7 Reisenden tun können (außer jenen welche die Sirenen 8 schon aus der Ferne verlockten) aber es war in der 9 ganzen Welt bekannt, daß das unmöglich helfen konnte. 10 Der Gesang der Sirenen durchdrang alles, gar Wachs,  11 und die Leidenschaft der Verführten hätte mehr als 12 Ketten und Mast gesprengt. Daran nun dachte aber 13 Odysseus nicht obwohl er davon vielleicht gehört hatte, 14 er vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem 15 Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude über seine 16 Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen.
     17 Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere 18 Waffe als ihren Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist 19 zwar nicht geschehn, aber vielleicht denkbar, daß sich 20 jemand vor ihrem Gesange gerettet hätte, vor ihrem 21 Verstummen gewiß nicht. Dem Gefühl aus eigener Kraft 22 sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden 23 Überhebung kann nichts Irdisches widerstehn.
     24 Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam, diese gewaltigen 25 Sängerinnen nicht, sei es daß sie glaubten,
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  1 diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, 2 sei es daß der Anblick der Glückseligkeit im 3 Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an 4 Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen 5 ließ.
     6 Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr 7 Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen und nur er sei 8 behütet es zu hören, flüchtig sah er zuerst die Wendungen 9 ihrer Hälse, das Tiefatmen, die tränenvollen Augen, 10 den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu 11 den Arien die ungehört um ihn erklangen. Bald aber glitt 12 alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die 13 Sirenen verschwanden ihm förmlich und gerade als er 14 ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.
     15 Sie aber, schöner als jemals, streckten und drehten 16 sich, ließen das schaurige Haar offen im Wind wehn, 17 spannten die Krallen frei auf den Felsen, sie wollten 18 nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen 19 Augenpaar des Odysseus wollten sie solange als 20 möglich erhaschen.
     21 Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals 22 vernichtet worden, so aber blieben sie, nur Odysseus ist 23 ihnen entgangen.
     24 Es wird übrigens noch ein Anhang hiezu überliefert. 25 Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher 26 Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes 27 dringen konnte, vielleicht hat er, obwohl das mit
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    1 Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich 2 gemerkt, daß die Sirenen schwiegen und hat ihnen und 3 den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen 4 als Schild entgegengehalten.
[Franz Kafka: Drucke zu Lebzeiten: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen. Eine kaiserliche Botschaft, S. 280-282 (1920 [1917]  
Der Kaiser — so heißt es — hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten hat er beim Bett niederknieen lassen und ihm die Botschaft ins Ohr zugeflüstert;  so sehr war ihm an ihr gelegen, daß er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er die Richtigkeit des Gesagten bestätigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines Todes — alle hindernden Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs — vor allen diesen hat er den Boten abgefertigt. Der Bote hat sich gleich auf den Weg gemacht; ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann; einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend schafft er sich Bahn durch die Menge; findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne ist; er kommt auch leicht vorwärts, wie kein anderer. Aber die Menge ist so groß; ihre Wohnstätten nehmen kein Ende. Öffnete sich freies Feld, wie würde er fliegen und bald wohl hörtest Du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an Deiner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos müht er sich ab; immer noch zwängt er sich durch die Gemächer des innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müßte er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor — aber niemals, niemals kann es geschehen  — liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. — Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt.
Drucke zu Lebzeiten: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen (1920 [1917]):
[Seite 262]:
1 Auf der Galerie
2 Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin 3 in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem 4 unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden 5 erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung 6 im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde 7 schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, 8 und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden 9 Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort 10 weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, 11 begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden 12 Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer 13 sind — vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher 14 die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte 15 in die Manege, riefe das: Halt! durch die Fanfaren des 16 immer sich anpassenden Orchesters.
17 Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und 18 rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die 19 stolzen Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor, hingebungsvoll 20 ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet; 21 vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, 22 als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf 23 gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen kann, 24 das Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüberwindung 25 es knallend gibt; neben dem Pferde mit
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1 offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin 2 scharfen Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen 3 kann; mit englischen Ausrufen zu warnen versucht; 4 die reifenhaltenden Reitknechte wütend zu peinlichster 5 Achtsamkeit ermahnt; vor dem großen Saltomortale 6 das Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, 7 es möge schweigen; schließlich die Kleine vom 8 zitternden Pferde hebt, auf beide Backen küßt und keine 9 Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während 10 sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, 11 vom Staub umweht, mit ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem 12 Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen 13 Zirkus teilen will — da dies so ist, legt der Galeriebesucher 14 das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch 15 wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, 16 ohne es zu wissen.
Nachgelassene Schriften und Fragmente II: [2] [“Oktavheft G”] (1918):
[Seite 69]:
16 Die Sage versucht das Unerklärliche 17 zu erklären; da sie aus einem Wahrheitsgrund
18 kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden.
19 Von Prometheus berichten vier Sagen. Nach der ersten 20 wurde er weil er die Götter an die Menschen verraten
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1 hatte am Kaukasus festgeschmiedet und die Götter 2 schickten Adler, die von seiner immer nachwachsenden 3 Leber fraßen.
4 Nach der zweiten drückte sich Prometheus im 5 Schmerz vor den zuhackenden Schnäbeln immer tiefer 6 in den Felsen bis er mit ihm eins wurde.
7 Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein Verrat
8 vergessen, die Götter vergaßen, die Adler, er selbst. 9 Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen 10 müde. Die Götter wurden müde, die Adler. Die 11 Wunde schloß sich müde.
12 Blieb das unerklärliche Felsgebirge.
Drucke zu Lebzeiten: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen: Elf Söhne (1919):
[Seite 288]:
18 Der siebente Sohn gehört mir vielleicht mehr als alle 19  andern. Die Welt versteht ihn nicht zu würdigen; seine 20  besondere Art von Witz versteht sie nicht. Ich überschätze 21 ihn nicht; ich weiß, er ist geringfügig genug;  22 hätte die Welt keinen andern Fehler als den, daß sie ihn 23 nicht zu würdigen weiß, sie wäre noch immer makellos. 24 Aber innerhalb der Familie wollte ich diesen Sohn nicht 25 missen. Sowohl Unruhe bringt er, als auch Ehrfurcht 26 vor der Überlieferung, und beides fügt er, wenigstens 27 für mein Gefühl, zu einem unanfechtbaren Ganzen. Mit
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1 diesem Ganzen weiß er allerdings selbst am wenigsten 2 etwas anzufangen; das Rad der Zukunft wird er nicht ins 3 Rollen bringen; aber diese seine Anlage ist so aufmunternd, 4 so hoffnungsreich; ich wollte, er hätte Kinder und 5 diese wieder Kinder. Leider scheint sich dieser Wunsch 6 nicht erfüllen zu wollen. In einer mir zwar begreiflichen, 7 aber ebenso unerwünschten Selbstzufriedenheit, die 8 allerdings in großartigem Gegensatz zum Urteil seiner 9 Umgebung steht, treibt er sich allein umher, kümmert 10 sich nicht um Mädchen und wird trotzdem niemals seine 11 gute Laune verlieren.
Nachgelassene Schriften und Fragmente II [9] [„Konvolut 1920“]
8 Ein Philosoph trieb sich immer dort herum wo Kinder 9 spielten. Und sah er einen Jungen, der einen 10 Kreisel hatte lauerte er schon. Kaum war der Kreisel in Drehung, 11 verfolgte ihn der Philosoph um ihn zu fangen. 12 Daß die Kinder lärmten und ihn von ihrem Spielzeug 13 abzuhalten suchten kümmerte ihn nicht, hatte er den 14 Kreisel, solange er sich noch drehte, gefangen, war er 15 glücklich, aber nur einen Augenblick, dann warf er ihn 16 zu Boden und ging fort. Er glaubte nämlich, die Erkenntnis 17 jeder Kleinigkeit, also z.B. auch eines sich 18  drehenden Kreisels genüge zur Erkenntnis des Allgemeinen. 19  Darum beschäftigte er sich nicht mit den großen 20 Problemen, das schien ihm unökonomisch, war die 21 kleinste Kleinigkeit wirklich erkannt, dann war alles 22 erkannt, deshalb beschäftigte er sich nur mit dem sich 23 drehenden Kreisel. Und immer wenn die Vorbereitungen 24 zum Drehen des Kreisels gemacht wurden, hatte er 25 Hoffnung, nun werde es gelingen und drehte sich der
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  1 Kreisel, wurde ihm im atemlosen Laufen nach ihm die 2  Hoffnung zur Gewißheit, hielt er aber dann das dumme 3  Holzstück in der Hand, wurde ihm übel und das Geschrei 4 der Kinder, das er bisher nicht gehört hatte und 5 das ihm jetzt plötzlich in die Ohren fuhr, jagte ihn fort, 6 er taumelte wie ein Kreisel unter einer ungeschickten 7 Peitsche.
Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente II, S. 572f (1920)
Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes unbrauchbares Gerät in einander verfahren verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch einmal im Spiel um eine Stange gewunden hebt sich im Wind. Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist Dir heimlich, fühlst Du Dich zuhause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe teils niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn. Und ich wage nicht an der Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so daß ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer der sein Geheimnis wahren will.
Nachgelassene Schriften und Fragmente II: [9] [“Konvolut 1920”]
[Seite 270]:
3 Zur Frage der Gesetze
4 Unsere Gesetze sind leider nicht allgemein bekannt, sie 5 sind Geheimnis der kleinen Adelsgruppe, welche uns 6 beherrscht. Wir sind davon überzeugt, daß diese alten 7 Gesetze genau eingehalten werden, aber es ist doch 8 etwas äußerst Quälendes nach Gesetzen beherrscht zu 9 werden, die man nicht kennt. Ich denke hiebei nicht an 10 die verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten und die 11 Nachteile, die es mit sich bringt, wenn nur Einzelne und 12 nicht das ganze Volk an der Auslegung sich beteiligen 13 dürfen. Diese Nachteile sind vielleicht gar nicht sehr 14 groß. Die Gesetze sind ja so alt, Jahrhunderte haben an 15 ihrer Auslegung gearbeitet, auch diese Auslegung ist 16 wohl schon Gesetz geworden, die möglichen Freiheiten 17 bei der Auslegung bestehn zwar immer noch, sind aber 18 sehr eingeschränkt. Außerdem hat offenbar der Adel 19 keinen Grund sich bei der Auslegung von seinem persönlichen 20 Interesse zu unsern Ungunsten beeinflussen 21 zu lassen, denn die Gesetze sind ja von ihrem Beginne an 22 für den Adel festgelegt worden, der Adel steht außerhalb 23 des Gesetzes und gerade deshalb scheint das Gesetz sich
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1 ausschließlich in die Hände des Adels gegeben zu haben. 2 Darin liegt natürlich Weisheit — wer zweifelt die Weisheit 3 der alten Gesetze an? — aber eben auch Qual für uns, 4 wahrscheinlich ist das unumgänglich.
5 Übrigens können auch diese Schein-Gesetze eigentlich 6 nur vermutet werden. Es ist eine Tradition, daß 7 sie bestehn und dem Adel als Geheimnis anvertraut 8 sind, aber mehr als alte und durch ihr Alter glaubwürdige 9 Tradition ist es nicht und kann es nicht sein, 10 denn der Charakter dieser Gesetze verlangt auch das 11 Geheimhalten ihres Bestandes. Wenn wir im Volk also 12 seit ältesten Zeiten die Handlungen des Adels aufmerksam 13 verfolgen, Aufschreibungen unserer Ureltern darüber 14 besitzen und sie gewissenhaft fortgesetzt haben 15 und wenn wir in den zahllosen Tatsachen gewisse Richtlinien 16 zu erkennen glauben, die auf diese oder jene 17 gesetzliche Bestimmung schließen lassen und wenn wir 18 nach diesen sorgfältigst gesiebten und geordneten 19 Schlußfolgerungen uns für die Gegenwart und Zukunft 20 ein wenig einzurichten suchen — so ist das alles höchst 21 unsicher und vielleicht nur ein Spiel des Verstandes, 22 denn vielleicht bestehen diese Gesetze die wir hier zu 23 erraten suchen überhaupt nicht. Es gibt eine kleine 24 Partei, die wirklich dieser Meinung ist und die nachzuweisen 25 sucht, daß, wenn ein Gesetz besteht, es nur 26 lauten kann: Was der Adel tut, ist Gesetz. Diese Partei 27 sieht nur Willkürakte des Adels und verwirft die Volkstradition,
[Seite 272]:
1 die ihrer Meinung nach nur geringen zufälligen 2 Nutzen bringt, dagegen meistens schweren Schaden, 3 da sie dem Volk den kommenden Ereignissen gegenüber 4 eine falsche trügerische zu Leichtsinn führende Sicherheit 5 gibt. Dieser Schaden ist nicht zu leugnen, aber die 6 beiweitem überwiegende Mehrheit unseres Volkes sieht 7 die Ursache dessen darin, daß die Tradition noch beiweitem 8 nicht ausreicht, daß also noch viel mehr in ihr 9 geforscht werden muß und daß allerdings auch ihr Material, 10 so riesenhaft es uns scheint, noch viel zu klein ist 11 und daß noch Jahrhunderte vergehen müssen ehe es 12 genügen wird. Das für die Gegenwart Trübe dieses 13 Ausblicks erhellt nur der Glaube, daß einmal eine Zeit 14 kommen wird, wo die Tradition und ihre Forschung 15 gewissermaßen aufatmend den Schlußpunkt macht, alles 16 klar geworden ist, das Gesetz nun dem Volk gehört und 17 der Adel verschwindet. Das wird nicht etwa mit Haß 18 gegen den Adel gesagt, durchaus nicht und von niemandem, 19 eher hassen wir uns selbst, weil wir noch nicht des 20 Gesetzes gewürdigt werden können. Und darum eigentlich 21 ist jene in gewissem Sinn doch sehr verlockende 22 Partei, welche an kein eigentliches Gesetz glaubt, so 23 klein geblieben, weil auch sie den Adel und das Recht 24 seines Bestandes vollkommen anerkennt. Man kann es 25 eigentlich nur in einer Art Widerspruch ausdrücken: 26 Eine Partei die neben dem Glauben an die Gesetze auch 27 den Adel verwerfen würde, hätte sofort das ganze Volk
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1 hinter sich, aber eine solche Partei kann nicht entstehn, 2 weil den Adel niemand zu verwerfen wagt. Auf dieses 3 Messers Schneide leben wir. Ein Schriftsteller hat das 4 einmal so zusammengefaßt: Das einzige sichtbare zweifellose 5 Gesetz, das uns auferlegt ist, ist der Adel und um 6 dieses einzige Gesetz sollten wir uns selbst bringen 7 wollen?

Nachgelassene Schriften und Fragmente I: [21] [“Oktavheft D”]:
[Seite 374]:
21 Die geschriebene und überlieferte Weltgeschichte versagt 22 oft vollständig, das menschliche Ahnungsvermögen 23 aber führt zwar oft irre, führt aber, verläßt einen nicht.
Drucke zu Lebzeiten: Ein Hungerkünstler: Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse (1924)
4 Unsere Sängerin heißt Josefine. Wer sie nicht gehört hat, 5 kennt nicht die Macht des Gesanges. Es gibt niemanden, 6 den ihr Gesang nicht fortreißt, was umso höher zu bewerten 7 ist, als unser Geschlecht im ganzen Musik nicht 8 liebt. Stiller Frieden ist uns die liebste Musik; unser Leben 9 ist schwer, wir können uns, auch wenn wir einmal 10 alle Tagessorgen abzuschütteln versucht haben, nicht 11 mehr zu solchen, unserem sonstigen Leben so fernen 12 Dingen erheben, wie es die Musik ist. Doch beklagen 13 wir es nicht sehr; nicht einmal so weit kommen wir; eine 14 gewisse praktische Schlauheit, die wir freilich auch äußerst 15 dringend brauchen, halten wir für unsern größten 16 Vorzug, und mit dem Lächeln dieser Schlauheit pflegen 17 wir uns über alles hinwegzutrösten, auch wenn wir einmal 18  — was aber nicht geschieht — das Verlangen nach dem 19 Glück haben sollten, das von der Musik vielleicht ausgeht. 20 Nur Josefine macht eine Ausnahme; sie liebt die 21 Musik und weiß sie auch zu vermitteln; sie ist die einzige;  22 mit ihrem Hingang wird die Musik — wer weiß wie 23 lange — aus unserem Leben verschwinden.
24 Ich habe oft darüber nachgedacht, wie es sich mit dieser 25 Musik eigentlich verhält. Wir sind doch ganz unmusikalisch;  
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1 wie kommt es, daß wir Josefinens Gesang verstehn 2 oder, da Josefine unser Verständnis leugnet, wenigstens 3 zu verstehen glauben. Die einfachste Antwort 4 wäre, daß die Schönheit dieses Gesanges so groß ist, daß  5 auch der stumpfste Sinn ihr nicht widerstehen kann, aber 6 diese Antwort ist nicht befriedigend. Wenn es wirklich 7 so wäre, müßte man vor diesem Gesang zunächst und 8 immer das Gefühl des Außerordentlichen haben, das 9 Gefühl, aus dieser Kehle erklinge etwas, was wir nie 10  vorher gehört haben und das zu hören wir auch gar nicht 11 die Fähigkeit haben, etwas, was zu hören uns nur diese 12 eine Josefine und niemand sonst befähigt. Gerade das 13 trifft aber meiner Meinung nach nicht zu, ich fühle es 14 nicht und habe auch bei andern nichts dergleichen bemerkt. 15 Im vertrauten Kreise gestehen wir einander offen, 16 daß Josefinens Gesang als Gesang nichts Außerordentliches 17 darstellt.
18 Ist es denn überhaupt Gesang? Trotz unserer Unmusikalität 19 haben wir Gesangsüberlieferungen; in den alten 20 Zeiten unseres Volkes gab es Gesang; Sagen erzählen 21 davon und sogar Lieder sind erhalten, die freilich niemand 22 mehr singen kann. Eine Ahnung dessen, was Gesang 23 ist, haben wir also und dieser Ahnung nun entspricht 24 Josefinens Kunst eigentlich nicht. Ist es denn 25 überhaupt Gesang? Ist es nicht vielleicht doch nur ein 26 Pfeifen? Und Pfeifen allerdings kennen wir alle, es ist die 27  eigentliche Kunstfertigkeit unseres Volkes, oder vielmehr
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1 gar keine Fertigkeit, sondern eine charakteristische 2 Lebensäußerung. Alle pfeifen wir, aber freilich denkt 3 niemand daran, das als Kunst auszugeben, wir pfeifen, 4 ohne darauf zu achten, ja, ohne es zu merken und es gibt 5 sogar viele unter uns, die gar nicht wissen, daß das Pfeifen 6 zu unsern Eigentümlichkeiten gehört. Wenn es also 7 wahr wäre, daß Josefine nicht singt, sondern nur pfeift 8 und vielleicht gar, wie es mir wenigstens scheint, über 9 die Grenzen des üblichen Pfeifens kaum hinauskommt —   10 ja vielleicht reicht ihre Kraft für dieses übliche Pfeifen 11 nicht einmal ganz hin, während es ein gewöhnlicher 12 Erdarbeiter ohne Mühe den ganzen Tag über neben seiner 13 Arbeit zustandebringt — wenn das alles wahr wäre, 14 dann wäre zwar Josefinens angebliche Künstlerschaft 15 widerlegt, aber es wäre dann erst recht das Rätsel ihrer 16 großen Wirkung zu lösen.
  17 Es ist aber eben doch nicht nur Pfeifen, was sie produziert. 18 Stellt man sich recht weit von ihr hin und horcht, 19 oder noch besser, läßt man sich in dieser Hinsicht prüfen, 20 singt also Josefine etwa unter andern Stimmen und 21 setzt man sich die Aufgabe, ihre Stimme zu erkennen, 22 dann wird man unweigerlich nichts anderes heraushören, 23 als ein gewöhnliches, höchstens durch Zartheit oder 24 Schwäche ein wenig auffallendes Pfeifen. Aber steht man 25 vor ihr, ist es doch nicht nur ein Pfeifen; es ist zum 26 Verständnis ihrer Kunst notwendig, sie nicht nur zu hören 27 sondern auch zu sehn. Selbst wenn es nur unser
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1 tagtägliches Pfeifen wäre, so besteht hier doch schon 2 zunächst die Sonderbarkeit, daß jemand sich feierlich 3 hinstellt, um nichts anderes als das Übliche zu tun. Eine 4 Nuß aufknacken ist wahrhaftig keine Kunst, deshalb 5 wird es auch niemand wagen, ein Publikum zusammenzurufen 6 und vor ihm, um es zu unterhalten, Nüsse 7 knacken. Tut er es dennoch und gelingt seine Absicht, 8 dann kann es sich eben doch nicht nur um bloßes Nüsseknacken 9 handeln. Oder es handelt sich um Nüsseknacken, 10 aber es stellt sich heraus, daß wir über diese Kunst 11 hinweggesehen haben, weil wir sie glatt beherrschten 12 und daß uns dieser neue Nußknacker erst ihr eigentliches 13 Wesen zeigt, wobei es dann für die Wirkung sogar 14 nützlich sein könnte, wenn er etwas weniger tüchtig im 15 Nüsseknacken ist als die Mehrzahl von uns.
 16 Vielleicht verhält es sich ähnlich mit Josefinens Gesang;  17 wir bewundern an ihr das, was wir an uns gar nicht 18 bewundern; übrigens stimmt sie in letzterer Hinsicht 19 mit uns völlig überein. Ich war einmal zugegen, als sie 20 jemand, wie dies natürlich öfters geschieht, auf das allgemeine 21 Volkspfeifen aufmerksam machte und zwar nur 22 ganz bescheiden, aber für Josefine war es schon zu viel. 23 Ein so freches, hochmütiges Lächeln, wie sie es damals 24 aufsetzte, habe ich noch nicht gesehn; sie, die äußerlich 25 eigentlich vollendete Zartheit ist, auffallend zart selbst in 26 unserem an solchen Frauengestalten reichen Volk, erschien 27 damals geradezu gemein; sie mochte es übrigens
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  1 in ihrer großen Empfindlichkeit auch gleich selbst fühlen 2 und faßte sich. Jedenfalls leugnet sie also jeden Zusammenhang 3 zwischen ihrer Kunst und dem Pfeifen. Für 4 die, welche gegenteiliger Meinung sind, hat sie nur Verachtung 5 und wahrscheinlich uneingestandenen Haß. 6 Das ist nicht gewöhnliche Eitelkeit, denn diese Opposition, 7 zu der auch ich halb gehöre, bewundert sie gewiß  8 nicht weniger als es die Menge tut, aber Josefine will 9 nicht nur bewundert, sondern genau in der von ihr bestimmten 10 Art bewundert sein, an Bewunderung allein 11 liegt ihr nichts. Und wenn man vor ihr sitzt, versteht 12 man sie; Opposition treibt man nur in der Ferne; wenn 13 man vor ihr sitzt, weiß man: was sie hier pfeift, ist kein 14 Pfeifen.
 15 Da Pfeifen zu unseren gedankenlosen Gewohnheiten 16 gehört, könnte man meinen, daß auch in Josefinens Auditorium 17 gepfiffen wird; es wird uns wohl bei ihrer 18 Kunst und wenn uns wohl ist, pfeifen wir; aber ihr Auditorium 19 pfeift nicht, es ist mäuschenstill, so als wären 20 wir des ersehnten Friedens teilhaftig geworden, von dem 21 uns zumindest unser eigenes Pfeifen abhält, schweigen 22 wir. Ist es ihr Gesang, der uns entzückt oder nicht vielmehr 23 die feierliche Stille, von der das schwache Stimmchen 24 umgeben ist? Einmal geschah es, daß irgendein törichtes 25 kleines Ding während Josefinens Gesang in aller 26 Unschuld auch zu pfeifen anfing. Nun, es war ganz dasselbe, 27 was wir auch von Josefine hörten; dort vorne das
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1 trotz aller Routine immer noch schüchterne Pfeifen und 2 hier im Publikum das selbstvergessene kindliche Gepfeife;  3 den Unterschied zu bezeichnen, wäre unmöglich gewesen;  4 aber doch zischten und pfiffen wir gleich die 5 Störerin nieder, trotzdem es gar nicht nötig gewesen wäre, 6 denn sie hätte sich gewiß auch sonst in Angst und 7 Scham verkrochen, während Josefine ihr Triumphpfeifen 8 anstimmte und ganz außer sich war mit ihren ausgespreizten 9 Armen und dem gar nicht mehr höher dehnbaren 10 Hals.
11 So ist sie übrigens immer, jede Kleinigkeit, jeden Zufall, 12 jede Widerspenstigkeit, ein Knacken im Parkett, ein 13 Zähneknirschen, eine Beleuchtungsstörung hält sie für 14 geeignet, die Wirkung ihres Gesanges zu erhöhen; sie 15 singt ja ihrer Meinung nach vor tauben Ohren; an Begeisterung 16 und Beifall fehlt es nicht, aber auf wirkliches 17 Verständnis, wie sie es meint, hat sie längst verzichten 18 gelernt. Da kommen ihr denn alle Störungen sehr gelegen;  19 alles, was sich von außen her der Reinheit ihres Gesanges 20 entgegenstellt, in leichtem Kampf, ja ohne Kampf, 21 bloß durch die Gegenüberstellung besiegt wird, kann 22  dazu beitragen, die Menge zu erwecken, sie zwar nicht 23 Verständnis, aber ahnungsvollen Respekt zu lehren.
    24 Wenn ihr aber nun das Kleine so dient, wie erst das 25 Große. Unser Leben ist sehr unruhig, jeder Tag bringt 26  Überraschungen, Beängstigungen, Hoffnungen und 27 Schrecken, daß der Einzelne unmöglich dies alles ertragen
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 1 könnte, hätte er nicht jederzeit bei Tag und Nacht 2 den Rückhalt der Genossen; aber selbst so wird es oft 3 recht schwer; manchmal zittern selbst tausend Schultern 4 unter der Last, die eigentlich nur für einen bestimmt 5 war. Dann hält Josefine ihre Zeit für gekommen. Schon 6 steht sie da, das zarte Wesen, besonders unterhalb der 7 Brust beängstigend vibrierend, es ist, als hätte sie alle 8 ihre Kraft im Gesang versammelt, als sei allem an ihr, 9 was nicht dem Gesange unmittelbar diene, jede Kraft, 10 fast jede Lebensmöglichkeit entzogen, als sei sie entblößt, 11 preisgegeben, nur dem Schutze guter Geister 12 überantwortet, als könne sie, während sie so, sich völlig 13 entzogen, im Gesange wohnt, ein kalter Hauch im Vorüberwehn 14 töten. Aber gerade bei solchem Anblick pflegen 15 wir angeblichen Gegner uns zu sagen: "Sie kann 16 nicht einmal pfeifen; so entsetzlich muß sie sich anstrengen, 17 um nicht Gesang — reden wir nicht von Gesang —   18 aber um das landesübliche Pfeifen einigermaßen sich 19 abzuzwingen." So scheint es uns, doch ist dies, wie erwähnt, 20 ein zwar unvermeidlicher, aber flüchtiger, 21 schnell vorübergehender Eindruck. Schon tauchen auch 22 wir in das Gefühl der Menge, die warm, Leib an Leib, 23 scheu atmend horcht.
    24 Und um diese Menge unseres fast immer in Bewegung 25 befindlichen, wegen oft nicht sehr klarer Zwecke hin- und 26 herschießenden Volkes um sich zu versammeln, 27 muß Josefine meist nichts anderes tun, als mit zurückgelegtem
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1 Köpfchen, halboffenem Mund, der Höhe zugewandten 2 Augen jene Stellung einnehmen, die darauf hindeutet, 3 daß sie zu singen beabsichtigt. Sie kann dies tun, 4 wo sie will, es muß kein weithin sichtbarer Platz sein, 5 irgendein verborgener, in zufälliger Augenblickslaune 6 gewählter Winkel ist ebensogut brauchbar. Die Nachricht, 7 daß sie singen will, verbreitet sich gleich, und bald 8 zieht es in Prozessionen hin. Nun, manchmal treten 9 doch Hindernisse ein, Josefine singt mit Vorliebe gerade 10 in aufgeregten Zeiten, vielfache Sorgen und Nöte zwingen 11 uns dann zu vielerlei Wegen, man kann sich beim 12 besten Willen nicht so schnell versammeln, wie es Josefine 13 wünscht, und sie steht dort diesmal in ihrer großen 14 Haltung vielleicht eine Zeitlang ohne genügende Hörerzahl 15  — dann freilich wird sie wütend, dann stampft sie 16 mit den Füßen, flucht ganz unmädchenhaft, ja sie beißt 17 sogar. Aber selbst ein solches Verhalten schadet ihrem 18 Rufe nicht; statt ihre übergroßen Ansprüche ein wenig 19 einzudämmen, strengt man sich an, ihnen zu entsprechen;  20 es werden Boten ausgeschickt, um Hörer herbeizuholen;  21 es wird vor ihr geheim gehalten, daß das geschieht;  22 man sieht dann auf den Wegen im Umkreis Posten 23 aufgestellt, die den Herankommenden zuwinken, 24 sie möchten sich beeilen; dies alles so lange, bis dann 25 schließlich doch eine leidliche Anzahl beisammen ist.
    26 Was treibt das Volk dazu, sich für Josefine so zu bemühen? 27 Eine Frage, nicht leichter zu beantworten als die
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 1 nach Josefinens Gesang, mit der sie ja auch zusammenhängt. 2 Man könnte sie streichen und gänzlich mit der 3 zweiten Frage vereinigen, wenn sich etwa behaupten ließe, 4 daß das Volk wegen des Gesanges Josefine bedingungslos 5 ergeben ist. Dies ist aber eben nicht der Fall;  6 bedingungslose Ergebenheit kennt unser Volk kaum;  7 dieses Volk, das über alles die freilich harmlose Schlauheit 8 liebt, das kindliche Wispern, den freilich unschuldigen, 9 bloß die Lippen bewegenden Tratsch, ein solches 10 Volk kann immerhin nicht bedingungslos sich hingeben, 11 das fühlt wohl auch Josefine, das ist es, was sie bekämpft 12 mit aller Anstrengung ihrer schwachen Kehle.
    13 Nur darf man freilich bei solchen allgemeinen Urteilen 14 nicht zu weit gehn, das Volk ist Josefine doch ergeben, 15 nur nicht bedingungslos. Es wäre z.B. nicht fähig, über 16 Josefine zu lachen. Man kann es sich eingestehn: an Josefine 17 fordert manches zum Lachen auf; und an und für 18 sich ist uns das Lachen immer nah; trotz allem Jammer 19 unseres Lebens ist ein leises Lachen bei uns gewissermaßen 20 immer zu Hause; aber über Josefine lachen wir 21 nicht. Manchmal habe ich den Eindruck, das Volk fasse 22 sein Verhältnis zu Josefine derart auf, daß sie, dieses 23 zerbrechliche, schonungsbedürftige, irgendwie ausgezeichnete, 24 ihrer Meinung nach durch Gesang ausgezeichnete 25 Wesen ihm anvertraut sei und es müsse für sie 26 sorgen; der Grund dessen ist niemandem klar, nur die 27 Tatsache scheint festzustehn. Über das aber, was einem
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 1 anvertraut ist, lacht man nicht; darüber zu lachen, wäre 2 Pflichtverletzung; es ist das Äußerste an Boshaftigkeit, 3 was die Boshaftesten unter uns Josefine zufügen, wenn 4 sie manchmal sagen: "Das Lachen vergeht uns, wenn 5 wir Josefine sehn."
    6 So sorgt also das Volk für Josefine in der Art eines 7 Vaters, der sich eines Kindes annimmt, das sein Händchen 8  — man weiß nicht recht, ob bittend oder fordernd —   9 nach ihm ausstreckt. Man sollte meinen, unser Volk tauge 10 nicht zur Erfüllung solcher väterlicher Pflichten, aber 11 in Wirklichkeit versieht es sie, wenigstens in diesem Falle, 12 musterhaft; kein Einzelner könnte es, was in dieser 13 Hinsicht das Volk als Ganzes zu tun imstande ist. Freilich, 14 der Kraftunterschied zwischen dem Volk und dem 15 Einzelnen ist so ungeheuer, es genügt, daß es den 16 Schützling in die Wärme seiner Nähe zieht, und er ist 17 beschützt genug. Zu Josefine wagt man allerdings von 18 solchen Dingen nicht zu reden. "Ich pfeife auf eueren 19 Schutz", sagt sie dann. "Ja, ja, du pfeifst", denken wir. 20 Und außerdem ist es wahrhaftig keine Widerlegung, 21 wenn sie rebelliert, vielmehr ist das durchaus Kindesart 22 und Kindesdankbarkeit, und Art des Vaters ist es, sich 23 nicht daran zu kehren.
    24 Nun spricht aber doch noch anderes mit herein, das 25 schwerer aus diesem Verhältnis zwischen Volk und Josefine 26 zu erklären ist. Josefine ist nämlich der gegenteiligen 27 Meinung, sie glaubt, sie sei es, die das Volk beschütze.
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 1 Aus schlimmer politischer oder wirtschaftlicher Lage 2 rettet uns angeblich ihr Gesang, nichts weniger als das 3 bringt er zuwege, und wenn er das Unglück nicht vertreibt, 4 so gibt er uns wenigstens die Kraft, es zu ertragen. 5 Sie spricht es nicht so aus und auch nicht anders, sie 6 spricht überhaupt wenig, sie ist schweigsam unter den 7 Plappermäulern, aber aus ihren Augen blitzt es, von ihrem 8 geschlossenen Mund — bei uns können nur wenige 9 den Mund geschlossen halten, sie kann es — ist es abzulesen. 10  Bei jeder schlechten Nachricht — und an manchen 11 Tagen überrennen sie einander, falsche und halbrichtige 12 darunter — erhebt sie sich sofort, während es sie sonst 13 müde zu Boden zieht, erhebt sich und streckt den Hals 14 und sucht den Überblick über ihre Herde wie der Hirt 15 vor dem Gewitter. Gewiß, auch Kinder stellen ähnliche 16 Forderungen in ihrer wilden, unbeherrschten Art, aber 17 bei Josefine sind sie doch nicht so unbegründet wie bei 18 jenen. Freilich, sie rettet uns nicht und gibt uns keine 19  Kräfte, es ist leicht, sich als Retter dieses Volkes aufzuspielen, 20 das leidensgewohnt, sich nicht schonend, schnell 21 in Entschlüssen, den Tod wohl kennend, nur dem Anscheine 22 nach ängstlich in der Atmosphäre von Tollkühnheit, 23 in der es ständig lebt, und überdies ebenso fruchtbar 24 wie wagemutig — es ist leicht, sage ich, sich nachträglich 25 als Retter dieses Volkes aufzuspielen, das sich noch 26 immer irgendwie selbst gerettet hat, sei es auch unter 27 Opfern, über die der Geschichtsforscher — im allgemeinen
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1 vernachlässigen wir Geschichtsforschung gänzlich —   2 vor Schrecken erstarrt. Und doch ist es wahr, daß wir 3 gerade in Notlagen noch besser als sonst auf Josefinens 4 Stimme horchen. Die Drohungen, die über uns stehen, 5 machen uns stiller, bescheidener, für Josefinens Befehlshaberei 6 gefügiger; gern kommen wir zusammen, gern 7 drängen wir uns aneinander, besonders weil es bei einem 8 Anlaß geschieht, der ganz abseits liegt von der quälenden 9 Hauptsache; es ist, als tränken wir noch schnell — ja, 10 Eile ist nötig, das vergißt Josefine allzuoft — gemeinsam 11 einen Becher des Friedens vor dem Kampf. Es ist nicht 12 so sehr eine Gesangsvorführung als vielmehr eine Volksversammlung, 13 und zwar eine Versammlung, bei der es 14 bis auf das kleine Pfeifen vorne völlig still ist; viel zu 15 ernst ist die Stunde, als daß man sie verschwätzen wollte.
    16 Ein solches Verhältnis könnte nun freilich Josefine gar 17 nicht befriedigen. Trotz all ihres nervösen Mißbehagens, 18 welches Josefine wegen ihrer niemals ganz geklärten 19 Stellung erfüllt, sieht sie doch, verblendet von ihrem 20 Selbstbewußtsein, manches nicht und kann ohne große 21 Anstrengung dazu gebracht werden, noch viel mehr zu 22 übersehen, ein Schwarm von Schmeichlern ist in diesem 23 Sinne, also eigentlich in einem allgemein nützlichen Sinne, 24 immerfort tätig, — aber nur nebenbei, unbeachtet, im 25 Winkel einer Volksversammlung zu singen, dafür würde 26 sie, trotzdem es an sich gar nicht wenig wäre, ihren Gesang 27 gewiß nicht opfern.
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1 Aber sie muß es auch nicht, denn ihre Kunst bleibt 2 nicht unbeachtet. Trotzdem wir im Grunde mit ganz 3 anderen Dingen beschäftigt sind und die Stille durchaus 4 nicht nur dem Gesange zuliebe herrscht und mancher 5 gar nicht aufschaut, sondern das Gesicht in den Pelz des 6 Nachbars drückt und Josefine also dort oben sich vergeblich 7 abzumühen scheint, dringt doch — das ist nicht 8 zu leugnen — etwas von ihrem Pfeifen unweigerlich auch 9 zu uns. Dieses Pfeifen, das sich erhebt, wo allen anderen 10 Schweigen auferlegt ist, kommt fast wie eine Botschaft 11 des Volkes zu dem Einzelnen; das dünne Pfeifen Josefinens 12 mitten in den schweren Entscheidungen ist fast wie 13 die armselige Existenz unseres Volkes mitten im Tumult 14 der feindlichen Welt. Josefine behauptet sich, dieses 15 Nichts an Stimme, dieses Nichts an Leistung behauptet 16 sich und schafft sich den Weg zu uns, es tut wohl, daran 17 zu denken. Einen wirklichen Gesangskünstler, wenn einer 18 einmal sich unter uns finden sollte, würden wir in 19 solcher Zeit gewiß nicht ertragen und die Unsinnigkeit 20 einer solchen Vorführung einmütig abweisen. Möge Josefine 21 beschützt werden vor der Erkenntnis, daß die Tatsache, 22 daß wir ihr zuhören, ein Beweis gegen ihren Gesang 23 ist. Eine Ahnung dessen hat sie wohl, warum würde 24 sie sonst so leidenschaftlich leugnen, daß wir ihr zuhören, 25 aber immer wieder singt sie, pfeift sie sich über diese 26 Ahnung hinweg.
    27 Aber es gäbe auch sonst noch immer einen Trost für
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1 sie: wir hören ihr doch auch gewissermaßen wirklich zu, 2 wahrscheinlich ähnlich, wie man einem Gesangskünstler 3 zuhört; sie erreicht Wirkungen, die ein Gesangskünstler 4 vergeblich bei uns anstreben würde und die nur gerade 5 ihren unzureichenden Mitteln verliehen sind. Dies hängt 6 wohl hauptsächlich mit unserer Lebensweise zusammen.
    7 In unserem Volke kennt man keine Jugend, kaum eine 8 winzige Kinderzeit. Es treten zwar regelmäßig Forderungen 9 auf, man möge den Kindern eine besondere 10 Freiheit, eine besondere Schonung gewährleisten, ihr 11 Recht auf ein wenig Sorglosigkeit, ein wenig sinnloses 12 Sichherumtummeln, auf ein wenig Spiel, dieses Recht 13 möge man anerkennen und ihm zur Erfüllung verhelfen;  14 solche Forderungen treten auf und fast jedermann billigt 15 sie, es gibt nichts, was mehr zu billigen wäre, aber es gibt 16 auch nichts, was in der Wirklichkeit unseres Lebens 17 weniger zugestanden werden könnte, man billigt die 18 Forderungen, man macht Versuche in ihrem Sinn, aber 19 bald ist wieder alles beim Alten. Unser Leben ist eben 20 derart, daß ein Kind, sobald es nur ein wenig läuft und 21 die Umwelt ein wenig unterscheiden kann, ebenso für 22 sich sorgen muß wie ein Erwachsener; die Gebiete, auf 23 denen wir aus wirtschaftlichen Rücksichten zerstreut leben 24 müssen, sind zu groß, unserer Feinde sind zu viele, 25 die uns überall bereiteten Gefahren zu unberechenbar —   26 wir können die Kinder vom Existenzkampfe nicht fernhalten, 27 täten wir es, es wäre ihr vorzeitiges Ende. Zu
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1 diesen traurigen Gründen kommt freilich auch ein erhebender: 2 die Fruchtbarkeit unseres Stammes. Eine Generation 3  — und jede ist zahlreich — drängt die andere, die 4 Kinder haben nicht Zeit, Kinder zu sein. Mögen bei 5 anderen Völkern die Kinder sorgfältig gepflegt werden, 6 mögen dort Schulen für die Kleinen errichtet sein, mögen 7 dort aus diesen Schulen täglich die Kinder strömen, 8 die Zukunft des Volkes, so sind es doch immer lange Zeit 9 Tag für Tag die gleichen Kinder, die dort hervorkommen. 10  Wir haben keine Schulen, aber aus unserem Volke 11 strömen in allerkürzesten Zwischenräumen die unübersehbaren 12 Scharen unserer Kinder, fröhlich zischend oder 13 piepsend, solange sie noch nicht pfeifen können, sich 14 wälzend oder kraft des Druckes weiterrollend, solange 15 sie noch nicht laufen können, täppisch durch ihre Masse 16 alles mit sich fortreißend, solange sie noch nicht sehen 17 können, unsere Kinder! Und nicht wie in jenen Schulen 18 die gleichen Kinder, nein, immer, immer wieder neue, 19  ohne Ende, ohne Unterbrechung, kaum erscheint ein 20 Kind, ist es nicht mehr Kind, aber schon drängen hinter 21 ihm die neuen Kindergesichter ununterscheidbar in ihrer 22 Menge und Eile, rosig vor Glück. Freilich, wie schön 23 dies auch sein mag und wie sehr uns andere darum auch 24 mit Recht beneiden mögen, eine wirkliche Kinderzeit 25 können wir eben unseren Kindern nicht geben. Und das 26 hat seine Folgewirkungen. Eine gewisse unerstorbene, 27 unausrottbare Kindlichkeit durchdringt unser Volk; im
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1 geraden Widerspruch zu unserem Besten, dem untrüglichen 2 praktischen Verstande, handeln wir manchmal ganz 3 und gar töricht, und zwar eben in der Art, wie Kinder 4 töricht handeln, sinnlos, verschwenderisch, großzügig, 5 leichtsinnig und dies alles oft einem kleinen Spaß zuliebe. 6 Und wenn unsere Freude darüber natürlich nicht 7 mehr die volle Kraft der Kinderfreude haben kann, etwas 8 von dieser lebt darin noch gewiß. Von dieser Kindlichkeit 9 unseres Volkes profitiert seit jeher auch Josefine.
    10 Aber unser Volk ist nicht nur kindlich, es ist gewissermaßen 11 auch vorzeitig alt, Kindheit und Alter machen 12 sich bei uns anders als bei anderen. Wir haben keine 13 Jugend, wir sind gleich Erwachsene, und Erwachsene 14 sind wir dann zu lange, eine gewisse Müdigkeit und 15 Hoffnungslosigkeit durchzieht von da aus mit breiter 16 Spur das im ganzen doch so zähe und hoffnungsstarke 17 Wesen unseres Volkes. Damit hängt wohl auch unsere 18 Unmusikalität zusammen; wir sind zu alt für Musik,  19 ihre Erregung, ihr Aufschwung paßt nicht für unsere 20 Schwere, müde winken wir ihr ab; wir haben uns auf das 21 Pfeifen zurückgezogen; ein wenig Pfeifen hie und da, 22 das ist das Richtige für uns. Wer weiß, ob es nicht Musiktalente 23 unter uns gibt; wenn es sie aber gäbe, der 24 Charakter der Volksgenossen müßte sie noch vor ihrer 25 Entfaltung unterdrücken. Dagegen mag Josefine nach 26 ihrem Belieben pfeifen oder singen oder wie sie es nennen 27 will, das stört uns nicht, das entspricht uns, das
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1 können wir wohl vertragen; wenn darin etwas von Musik 2 enthalten sein sollte, so ist es auf die möglichste 3 Nichtigkeit reduziert; eine gewisse Musiktradition wird 4 gewahrt, aber ohne daß uns dies im geringsten beschweren 5 würde.
    6 Aber Josefine bringt diesem so gestimmten Volke 7 noch mehr. Bei ihren Konzerten, besonders in ernster 8 Zeit, haben nur noch die ganz Jungen Interesse an der 9 Sängerin als solcher, nur sie sehen mit Staunen zu, wie 10 sie ihre Lippen kräuselt, zwischen den niedlichen Vorderzähnen 11 die Luft ausstößt, in Bewunderung der Töne, 12 die sie selbst hervorbringt, erstirbt und dieses Hinsinken 13 benützt, um sich zu neuer, ihr immer unverständlicher 14 werdender Leistung anzufeuern, aber die eigentliche 15 Menge hat sich — das ist deutlich zu erkennen — auf sich 16 selbst zurückgezogen. Hier in den dürftigen Pausen zwischen 17 den Kämpfen träumt das Volk, es ist, als lösten 18 sich dem Einzelnen die Glieder, als dürfte sich der Ruhelose 19 einmal nach seiner Lust im großen warmen Bett des 20 Volkes dehnen und strecken. Und in diese Träume klingt 21 hie und da Josefinens Pfeifen; sie nennt es perlend, wir 22 nennen es stoßend; aber jedenfalls ist es hier an seinem 23 Platze, wie nirgends sonst, wie Musik kaum jemals den 24 auf sie wartenden Augenblick findet. Etwas von der armen 25 kurzen Kindheit ist darin, etwas von verlorenem, 26 nie wieder aufzufindendem Glück, aber auch etwas vom 27 tätigen heutigen Leben ist darin, von seiner kleinen, unbegreiflichen
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1 und dennoch bestehenden und nicht zu 2 ertötenden Munterkeit. Und dies alles ist wahrhaftig 3 nicht mit großen Tönen gesagt, sondern leicht, flüsternd, 4 vertraulich, manchmal ein wenig heiser. Natürlich ist es 5 ein Pfeifen. Wie denn nicht? Pfeifen ist die Sprache unseres 6 Volkes, nur pfeift mancher sein Leben lang und weiß  7 es nicht, hier aber ist das Pfeifen freigemacht von den 8 Fesseln des täglichen Lebens und befreit auch uns für 9 eine kurze Weile. Gewiß, diese Vorführungen wollten 10 wir nicht missen.
    11 Aber von da bis zu Josefinens Behauptung, sie gebe 12 uns in solchen Zeiten neue Kräfte usw. usw., ist noch ein 13 sehr weiter Weg. Für gewöhnliche Leute allerdings, 14 nicht für Josefinens Schmeichler. "Wie könnte es anders 15 sein" — sagen sie in recht unbefangener Keckheit — "wie 16 könnte man anders den großen Zulauf, besonders unter 17 unmittelbar drängender Gefahr, erklären, der schon 18 manchmal sogar die genügende, rechtzeitige Abwehr 19 eben dieser Gefahr verhindert hat." Nun, dies letztere 20 ist leider richtig, gehört aber doch nicht zu den Ruhmestiteln 21 Josefinens, besonders wenn man hinzufügt, daß, 22 wenn solche Versammlungen unerwartet vom Feind gesprengt 23 wurden, und mancher der unserigen dabei sein 24 Leben lassen mußte, Josefine, die alles verschuldet, ja, 25 durch ihr Pfeifen den Feind vielleicht angelockt hatte, 26 immer im Besitz des sichersten Plätzchens war und unter 27 dem Schutze ihres Anhanges sehr still und eiligst als
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1 erste verschwand. Aber auch dieses wissen im Grunde 2 alle, und dennoch eilen sie wieder hin, wenn Josefine 3 nächstens nach ihrem Belieben irgendwo, irgendwann 4 zum Gesange sich erhebt. Daraus könnte man schließen, 5 daß Josefine fast außerhalb des Gesetzes steht, daß sie 6 tun darf, was sie will, selbst wenn es die Gesamtheit 7 gefährdet, und daß ihr alles verziehen wird. Wenn dies 8 so wäre, dann wären auch Josefinens Ansprüche völlig 9 verständlich, ja, man könnte gewissermaßen in dieser 10 Freiheit, die ihr das Volk geben würde, in diesem außerordentlichen, 11 niemand sonst gewährten, die Gesetze eigentlich 12 widerlegenden Geschenk ein Eingeständnis dessen 13 sehen, daß das Volk Josefine, wie sie es behauptet, 14 nicht versteht, ohnmächtig ihre Kunst anstaunt, sich ihrer 15 nicht würdig fühlt, dieses Leid, das es Josefine tut, 16 durch eine geradezu verzweifelte Leistung auszugleichen 17 strebt und, so wie ihre Kunst außerhalb seines Fassungsvermögens 18 ist, auch ihre Person und deren Wünsche außerhalb 19 seiner Befehlsgewalt stellt. Nun, das ist allerdings 20 ganz und gar nicht richtig, vielleicht kapituliert im 21 einzelnen das Volk zu schnell vor Josefine, aber wie es 22 bedingungslos vor niemandem kapituliert, also auch 23 nicht vor ihr.
  24 Schon seit langer Zeit, vielleicht schon seit Beginn ihrer 25 Künstlerlaufbahn, kämpft Josefine darum, daß sie 26 mit Rücksicht auf ihren Gesang von jeder Arbeit befreit 27 werde; man solle ihr also die Sorge um das tägliche Brot
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1 und alles, was sonst mit unserem Existenzkampf verbunden 2 ist, abnehmen und es — wahrscheinlich — auf das 3 Volk als Ganzes überwälzen. Ein schnell Begeisterter —   4 es fanden sich auch solche — könnte schon allein aus der 5 Sonderbarkeit dieser Forderung, aus der Geistesverfassung, 6 die eine solche Forderung auszudenken imstande 7 ist, auf deren innere Berechtigung schließen. Unser Volk 8 zieht aber andere Schlüsse, und lehnt ruhig die Forderung 9 ab. Es müht sich auch mit der Widerlegung der Gesuchsbegründung 10 nicht sehr ab. Josefine weist z.B. darauf hin, 11 daß die Anstrengung bei der Arbeit ihrer Stimme schade, 12  daß zwar die Anstrengung bei der Arbeit gering sei im 13 Vergleich zu jener beim Gesang, daß sie ihr aber doch 14 die Möglichkeit nehme, nach dem Gesang sich genügend 15 auszuruhen und für neuen Gesang sich zu stärken, sie 16 müsse sich dabei gänzlich erschöpfen und könne trotzdem 17 unter diesen Umständen ihre Höchstleistung niemals 18 erreichen. Das Volk hört sie an und geht darüber 19 hinweg. Dieses so leicht zu rührende Volk ist manchmal 20 gar nicht zu rühren. Die Abweisung ist manchmal so 21 hart, daß selbst Josefine stutzt, sie scheint sich zu fügen, 22 arbeitet wie sichs gehört, singt so gut sie kann, aber das 23 alles nur eine Weile, dann nimmt sie den Kampf mit 24 neuen Kräften — dafür scheint sie unbeschränkt viele zu 25 haben — wieder auf.
    26 Nun ist es ja klar, daß Josefine nicht eigentlich das 27 anstrebt, was sie wörtlich verlangt. Sie ist vernünftig, sie
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  1 scheut die Arbeit nicht, wie ja Arbeitsscheu überhaupt 2 bei uns unbekannt ist, sie würde auch nach Bewilligung 3 ihrer Forderung gewiß nicht anders leben als früher, die 4 Arbeit würde ihrem Gesang gar nicht im Wege stehn, 5 und der Gesang allerdings würde auch nicht schöner 6 werden — was sie anstrebt, ist also nur die öffentliche, 7 eindeutige, die Zeiten überdauernde, über alles bisher Bekannte 8 sich weit erhebende Anerkennung ihrer Kunst. 9 Während ihr aber fast alles andere erreichbar scheint, 10 versagt sich ihr dieses hartnäckig. Vielleicht hätte sie den 11 Angriff gleich anfangs in andere Richtung lenken sollen, 12 vielleicht sieht sie jetzt selbst den Fehler ein, aber nun 13 kann sie nicht mehr zurück, ein Zurückgehen hieße sich 14 selbst untreu werden, nun muß sie schon mit dieser 15 Forderung stehen oder fallen.
    16 Hätte sie wirklich Feinde, wie sie sagt, sie könnten 17 diesem Kampfe, ohne selbst den Finger rühren zu müssen, 18 belustigt zusehen. Aber sie hat keine Feinde, und 19 selbst wenn mancher hie und da Einwände gegen sie hat, 20 dieser Kampf belustigt niemanden. Schon deshalb nicht, 21 weil sich hier das Volk in seiner kalten richterlichen Haltung 22 zeigt, wie man es sonst bei uns nur sehr selten sieht. 23 Und wenn einer auch diese Haltung in diesem Falle billigen 24 mag, so schließt doch die bloße Vorstellung, daß sich 25 einmal das Volk ähnlich gegen ihn selbst verhalten könnte, 26 jede Freude aus. Es handelt sich eben auch bei der 27  Abweisung, ähnlich wie bei der Forderung, nicht um die
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1 Sache selbst, sondern darum, daß sich das Volk gegen 2 einen Volksgenossen derart undurchdringlich abschließen 3 kann und um so undurchdringlicher, als es sonst für 4 eben diesen Genossen väterlich und mehr als väterlich, 5 demütig sorgt.
    6 Stünde hier an Stelle des Volkes ein Einzelner: man 7 könnte glauben, dieser Mann habe die ganze Zeit über 8 Josefine nachgegeben unter dem fortwährenden brennenden 9 Verlangen endlich der Nachgiebigkeit ein Ende 10 zu machen; er habe übermenschlich viel nachgegeben im 11 festen Glauben, daß das Nachgeben trotzdem seine richtige 12 Grenze finden werde; ja, er habe mehr nachgegeben 13 als nötig war, nur um die Sache zu beschleunigen, nur, 14 um Josefine zu verwöhnen und zu immer neuen Wünschen 15 zu treiben, bis sie dann wirklich diese letzte 16 Forderung erhob; da habe er nun freilich, kurz, weil 17 längst vorbereitet, die endgültige Abweisung vorgenommen. 18 Nun, so verhält es sich ganz gewiß nicht, das Volk 19 braucht solche Listen nicht, außerdem ist seine Verehrung 20 für Josefine aufrichtig und erprobt und Josefinens 21 Forderung ist allerdings so stark, daß jedes unbefangene 22 Kind ihr den Ausgang hätte voraussagen können; trotzdem 23 mag es sein, daß in der Auffassung, die Josefine von 24 der Sache hat, auch solche Vermutungen mitspielen und 25‚ 26 dem Schmerz der Abgewiesenen eine Bitternis hinzufügen.
    27 Aber mag sie auch solche Vermutungen haben, vom
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1 Kampf abschrecken läßt sie sich dadurch nicht. In letzter 2 Zeit verschärft sich sogar der Kampf; hat sie ihn bisher 3 nur durch Worte geführt, fängt sie jetzt an, andere Mittel 4 anzuwenden, die ihrer Meinung nach wirksamer, unserer 5 Meinung nach für sie selbst gefährlicher sind.
    6 Manche glauben, Josefine werde deshalb so dringlich, 7 weil sie sich alt werden fühle, die Stimme Schwächen 8 zeige, und es ihr daher höchste Zeit zu sein scheine, den 9 letzten Kampf um ihre Anerkennung zu führen. Ich 10 glaube daran nicht. Josefine wäre nicht Josefine, wenn 11 dies wahr wäre. Für sie gibt es kein Altern und keine 12 Schwächen ihrer Stimme. Wenn sie etwas fordert, so 13 wird sie nicht durch äußere Dinge, sondern durch innere 14 Folgerichtigkeit dazu gebracht. Sie greift nach dem 15 höchsten Kranz, nicht, weil er im Augenblick gerade ein 16 wenig tiefer hängt, sondern weil es der höchste ist; wäre 17 es in ihrer Macht, sie würde ihn noch höher hängen.
    18 Diese Mißachtung äußerer Schwierigkeiten hindert sie 19 allerdings nicht, die unwürdigsten Mittel anzuwenden. 20 Ihr Recht steht ihr außer Zweifel; was liegt also daran, 21 wie sie es erreicht; besonders da doch in dieser Welt, so 22 wie sie sich ihr darstellt, gerade die würdigen Mittel versagen 23 müssen. Vielleicht hat sie sogar deshalb den 24 Kampf um ihr Recht aus dem Gebiet des Gesanges auf 25 ein anderes ihr wenig teures verlegt. Ihr Anhang hat 26 Aussprüche von ihr in Umlauf gebracht, nach denen sie 27 sich durchaus fähig fühlt, so zu singen, daß es dem Volk
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1 in allen seinen Schichten bis in die versteckteste Opposition 2 hinein eine wirkliche Lust wäre, wirkliche Lust 3 nicht im Sinne des Volkes, welches ja behauptet, diese 4 Lust seit jeher bei Josefinens Gesang zu fühlen, sondern 5 Lust im Sinne von Josefinens Verlangen. Aber, fügt sie 6 hinzu, da sie das Hohe nicht fälschen und dem Gemeinen 7 nicht schmeicheln könne, müsse es eben bleiben, 8 wie es sei. Anders aber ist es bei ihrem Kampf um die 9 Arbeitsbefreiung, zwar ist es auch ein Kampf um ihren 10 Gesang, aber hier kämpft sie nicht unmittelbar mit der 11 kostbaren Waffe des Gesanges, jedes Mittel, das sie anwendet, 12 ist daher gut genug.
    13 So wurde z.B. das Gerücht verbreitet, Josefine beabsichtige, 14 wenn man ihr nicht nachgebe, die Koloraturen 15 zu kürzen. Ich weiß nichts von Koloraturen, habe in 16 ihrem Gesange niemals etwas von Koloraturen bemerkt. 17 Josefine aber will die Koloraturen kürzen, vorläufig 18 nicht beseitigen, sondern nur kürzen. Sie hat angeblich 19 ihre Drohung wahr gemacht, mir allerdings ist kein Unterschied 20 gegenüber ihren früheren Vorführungen aufgefallen. 21 Das Volk als Ganzes hat zugehört wie immer, 22 ohne sich über die Koloraturen zu äußern, und auch die 23 Behandlung von Josefinens Forderung hat sich nicht geändert. 24 Übrigens hat Josefine, wie in ihrer Gestalt, unleugbar 25 auch in ihrem Denken manchmal etwas recht 26 Graziöses. So hat sie z.B. nach jener Vorführung, so als 27 sei ihr Entschluß hinsichtlich der Koloraturen gegenüber
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 1 dem Volk zu hart oder zu plötzlich gewesen, erklärt, 2 nächstens werde sie die Koloraturen doch wieder vollständig 3 singen. Aber nach dem nächsten Konzert besann 4 sie sich wieder anders, nun sei es endgültig zu Ende mit 5 den großen Koloraturen, und vor einer für Josefine günstigen 6 Entscheidung kämen sie nicht wieder. Nun, das 7 Volk hört über alle diese Erklärungen, Entschlüsse und 8 Entschlußänderungen hinweg, wie ein Erwachsener in 9 Gedanken über das Plaudern eines Kindes hinweghört,  10 grundsätzlich wohlwollend, aber unerreichbar.
    11 Josefine aber gibt nicht nach. So behauptete sie z.B. 12 neulich, sie habe sich bei der Arbeit eine Fußverletzung 13 zugezogen, die ihr das Stehen während des Gesanges 14 beschwerlich mache; da sie aber nur stehend singen könne, 15 müsse sie jetzt sogar die Gesänge kürzen. Trotzdem 16 sie hinkt und sich von ihrem Anhang stützen läßt, glaubt 17 niemand an eine wirkliche Verletzung. Selbst die besondere 18 Empfindlichkeit ihres Körperchens zugegeben, 19 sind wir doch ein Arbeitsvolk und auch Josefine gehört  20 zu ihm; wenn wir aber wegen jeder Hautabschürfung 21 hinken wollten, dürfte das ganze Volk mit Hinken gar 22 nicht aufhören. Aber mag sie sich wie eine Lahme führen 23 lassen, mag sie sich in diesem bedauernswerten Zustand 24 öfters zeigen als sonst, das Volk hört ihren Gesang dankbar 25 und entzückt wie früher, aber wegen der Kürzung 26 macht es nicht viel Aufhebens.
    27 Da sie nicht immerfort hinken kann, erfindet sie etwas
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 1 anderes, sie schützt Müdigkeit vor, Mißstimmung, 2 Schwäche. Wir haben nun außer dem Konzert auch ein 3 Schauspiel. Wir sehen hinter Josefine ihren Anhang, wie 4 er sie bittet und beschwört zu singen. Sie wollte gern, 5 aber sie kann nicht. Man tröstet sie, umschmeichelt sie, 6 trägt sie fast auf den schon vorher ausgesuchten Platz, 7 wo sie singen soll. Endlich gibt sie mit undeutbaren Tränen 8 nach, aber wie sie mit offenbar letztem Willen zu 9 singen anfangen will, matt, die Arme nicht wie sonst 10  ausgebreitet, sondern am Körper leblos herunterhängend, 11 wobei man den Eindruck erhält, daß sie vielleicht 12 ein wenig zu kurz sind — wie sie so anstimmen will, nun, 13 da geht es doch wieder nicht, ein unwilliger Ruck des 14 Kopfes zeigt es an und sie sinkt vor unseren Augen zusammen. 15 Dann allerdings rafft sie sich doch wieder auf 16 und singt, ich glaube, nicht viel anders als sonst, vielleicht 17 wenn man für feinste Nuancen das Ohr hat, hört 18 man ein wenig außergewöhnliche Erregung heraus, die 19 der Sache aber nur zugute kommt. Und am Ende ist sie 20 sogar weniger müde als vorher, mit festem Gang, soweit 21 man ihr huschendes Trippeln so nennen kann, entfernt 22 sie sich, jede Hilfe des Anhangs ablehnend und mit kalten 23 Blicken die ihr ehrfurchtsvoll ausweichende Menge 24 prüfend.
    25 So war es letzthin, das Neueste aber ist, daß sie zu 26 einer Zeit, wo ihr Gesang erwartet wurde, verschwunden 27 war. Nicht nur der Anhang sucht sie, viele stellen
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1 sich in den Dienst des Suchens, es ist vergeblich; Josefine 2 ist verschwunden, sie will nicht singen, sie will nicht 3 einmal darum gebeten werden, sie hat uns diesmal völlig 4 verlassen.
    5 Sonderbar, wie falsch sie rechnet, die Kluge, so falsch, 6 daß man glauben sollte, sie rechne gar nicht, sondern 7 werde nur weiter getrieben von ihrem Schicksal, das in 8 unserer Welt nur ein sehr trauriges werden kann. Selbst 9 entzieht sie sich dem Gesang, selbst zerstört sie die 10 Macht, die sie über die Gemüter erworben hat. Wie 11 konnte sie nur diese Macht erwerben, da sie diese Gemüter 12 so wenig kennt. Sie versteckt sich und singt nicht, 13 aber das Volk, ruhig, ohne sichtbare Enttäuschung, herrisch, 14 eine in sich ruhende Masse, die förmlich, auch 15 wenn der Anschein dagegen spricht, Geschenke nur geben, 16 niemals empfangen kann, auch von Josefine nicht, 17 dieses Volk zieht weiter seines Weges.
    18 Mit Josefine aber muß es abwärts gehn. Bald wird die 19 Zeit kommen, wo ihr letzter Pfiff ertönt und verstummt. 20 Sie ist eine kleine Episode in der ewigen Geschichte unseres 21 Volkes und das Volk wird den Verlust überwinden. 22 Leicht wird es uns ja nicht werden; wie werden die Versammlungen 23 in völliger Stummheit möglich sein? Freilich, 24 waren sie nicht auch mit Josefine stumm? War ihr 25 wirkliches Pfeifen nennenswert lauter und lebendiger, 26 als die Erinnerung daran sein wird? War es denn noch 27 bei ihren Lebzeiten mehr als eine bloße Erinnerung? Hat
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1 nicht vielmehr das Volk in seiner Weisheit Josefinens 2 Gesang, eben deshalb, weil er in dieser Art unverlierbar 3 war, so hoch gestellt?
    4 Vielleicht werden wir also gar nicht sehr viel entbehren, 5 Josefine aber, erlöst von der irdischen Plage, die 6 aber ihrer Meinung nach Auserwählten bereitet ist, wird 7 fröhlich sich verlieren in der zahllosen Menge der Helden 8 unseres Volkes, und bald, da wir keine Geschichte 9 treiben, in gesteigerter Erlösung vergessen sein wie alle 10 ihre Brüder.
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