Shinran und Luther sola fide Shin-Buddhismus - Was aus meinen Träumen wurde

Direkt zum Seiteninhalt

Buddhistisch-christliche Konvergenzen: Shinran
Einführung
Wer in Japan, besonders in seiner Religion, das ganz Andere sucht und dabei von Gegenwelten zu seiner eigenen, problematisch gewordenen Welt träumt, der wird Shinran vielleicht nie begegnen. So wird der Blick verstellt auf die wohl faszinierenste Gestalt in der japanischen Religionsgeschichte, einen zutiefst gläubigen Denker und Prediger, einen radikalen Reformer, der wie keiner sonst in der japanischen Geschichte die Freiheit und Verantwortung des Einzelnen betont und gelebt hat - und das vor 800 Jahren! Erstaunlich auch Shinrans enorme Popularität im modernen Japan, vor allem bei Intellektuellen und Reformern, bis hin zu marxistischen Denkern, die ihn allerdings oft einseitig als radikalen Sozialreformer sahen. Im Zentrum steht bei Shinran aber seine zentrale religiöse Erfahrung der Erlösung allein durch den Glauben, die - auch in ihren radikalen Konsequenzen - in vielem mit Luthers Glaubenserfahrung vergleichbar ist. Das haben schon die frühen Missionare in Japan und später vor allem Karl Barth offenbar mit einigem Erschrecken bemerkt. Kann man das wie Barth einfach abtun mit dem Hinweis, dass bei Shinran trotz aller Übereinstimmung das Entscheidende fehle, nämlich die Berufung auf Jesus Christus? Lohnt es sich nicht, der Möglichkeit nachzuspüren, dass hier eine tiefe, grundlegende menschliche Erfahrung sichtbar wird, die auch über den religiösen Bereich hinaus, eine Basis sein könnte für den heutigen Menschen und sein Streben nach Freiheit in Verantwortung? So wandelt sich der Traum von der Suche nach dem ganz Anderen in Japan in den noch attraktiveren von der Möglichkeit grundsätzlicher menschlicher Erfahrungen jenseits von geschichtlichen Zusammenhängen, von bestimmten Kulturen und Religionen. Dem soll im Folgenden nachgegangen werden, wobei ich hier zunächst eine zusammenfassende Darstellung gebe mit Hinweisen auf Aufsätze, in denen das Gesagte zum Teil sehr detailliert erörtert und belegt wird, meist unter bestimmten, durch das Thema festgelegten Aspekten.
Dazu ist es zunächst nötig, sich näher mit Shinran und seinen Lebensumständen und vor allem mit seiner konkreten religiösen Erfahrung zu befassen.
Shinrans Lebensumstände  [ausführlich dazu, English]
In der Tradition des auf Shinran zurückgehenden Shin-Buddhismus, gibt es verschiedene, teils sehr ausführliche Biographien Shinrans, die aber oft legendenhaft und als historische Quellen praktisch wertlos sind. Mit dem Beginn der historisch-kritischen Shinran-Forschung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde teilweise, ähnlich wie in der Leben-Jesu-Forschung in Europa, sogar bezweifelt, dass Shinran wirklich gelebt habe. Das änderte sich in den zwanziger Jahren mit dem Nachweis von Originalmanuskripten Shinrans und besonders mit der Entdeckung von Briefen seiner Frau Eshinni.
Mit großer Wahrscheinlichkeit stammt Shinran aus einer (wohl verarmten) Adelsfamilie und wurde 1181 mit acht Jahren Mönch auf dem Hiei-zan in Kyoto. Der Berg ist auch heute noch übersät mit zahlreichen Tempeln der Tendai-Schule, die teils ganz unterschiedliche Wege zur Erlösung innerhalb des Buddhismus anboten. Zwanzig Jahre blieb Shinran dort und übte sich in den verschiedenen Praktiken, bevor er 1201 enttäuscht den Hiei verließ und sich Hōnen (1133-1212) anschloss. Das war der entscheidende Schritt Shinrans zum Amida-Glauben, zu der Überzeugung, dass Erlösung nur möglich ist aufgrund des Gelübdes von Amida Buddha, alle Menschen ins Reine Land und damit zur Erleuchtung zu führen. Der oder die Gläubige muss nur, wie Hōnen lehrt, im unbedingten Vertrauen auf dieses Gelübde den Namen Amida Buddhas immer wieder anrufen (Namu Amida Butsu). Das macht eine persönliche Beziehung des einzelnen zu Amida Buddha möglich, die für Shinran das Herzstück seiner Frömmigkeit wurde.
Dass dabei die etablierten buddhistischen Tempel ihre traditionelle Rolle als Vermittler zwischen den Gläubigen und Buddha verloren, gefiel diesen gar nicht, und so benutzten sie ihren politischen Einfluss und erreichten 1207 die Verbannung Hōnens und mehrerer seiner Schüler, einschließlich Shinrans. Damit beginnt die wohl wichtigste Periode in Shinrans Leben, die in Echigo (heute Niigata), wo Shinran auch nach Aufhebung des Exils 1211 wahrscheinlich noch einige Jahre blieb.
Shinrans Aufenthalt in Echigo bedeutete einen entscheidenden Einschnitt, wie kein anderes Ereignis seines späteren Lebens. Er verlor seine Privilegien als buddhistischer Mönch und wurde gezwungen, nicht nur seine vertraute Umgebung zu verlassen, sondern auch seinen Lehrer Hōnen, der ihm so viel bedeutete. Fern vom kulturellen Zentrum musste er auf viele geistige Anregungen und Kontakte verzichten. Zur Verbitterung über das ihm von seinen etablierten Glaubensbrüdern angetane Unrecht kam die Notwendigkeit, erstmals und dazu unter schwierigen Bedingungen den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu verdienen. Die Bestimmungen für Verbannte und die Lebensbedingungen in Echigo waren damals sehr hart. Ganz neu waren für Shinran auch die Erfahrungen von Ehe und Familie sowie das Leben unter einfachen Leuten in der Provinz, die oft unter den menschenunwürdigsten Bedingungen leben mußten und wegen ihrer körperlichen Arbeit, die Shinran jetzt teilte, von den Gebildeten verachtet wurden. Viele wurden damals sogar als Hinin („Nicht-Menschen) bezeichnet. All dies hatte großen Einfluss auf Shinrans religiöse Entwicklung.
Es folgte ein etwa zwei Jahrzehnte dauernder Aufenthalt Shinrans mit missionarischer Tätigkeit in Hitachi, heute Ibaraki, wahrscheinlich von 1214 bis etwa 1235, und schließlich der letzte Lebensabschnitt in Kyoto bis zu seinem Tode 1263.
Insgesamt wird man sagen können, dass Shinrans teils radikale Um- und Neugestaltung der buddhistischen Tradition im wesentlichen auf seine Erfahrungen während des Exils zurückgeht. Grundlage dafür war seine langjährige Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen religiösen Traditionen auf dem Hiei-zan. [mehr dazu] Was sich aus diesen Erfahrungen ergeben hat, das soll nun in Bezug auf einige wichtige Aspekte seines Denkens und seiner religiösen Überzeugung dargestellt werden.
Shinran als radikaler religiöser Neuerer  [ausführlich dazu][English]
Im Zentrum von Shinrans religiöser Erfahrung steht die Überzeugung, dass keinerlei eigene Anstrengung des Menschen zum Heil führen kann, sondern nur der von Amida durch Zuwendung seiner Verdienste (Ekō) geschenkte Glaube. Die, zumindest subjektiv erfahrene, Unmöglichkeit, auf den in der buddhistischen Tradition angebotenen Wegen zum Ziel der Erleuchtung zu gelangen, hatte ihn zu Hōnen geführt. Dann, in der Verbannung, ganz auf sich allein gestellt, weitgehend abgeschnitten von den religiösen Traditionen und Gemeinschaften in Kyoto, aus den Erfahrungen des täglichen Lebens heraus und mit genügend Zeit zur Selbstbeobachtung und -reflexion, jetzt erst wurde Shinran offenbar das ganze Ausmaß der menschlichen Unzulänglichkeit bewusst, verstärkt auch durch das Gefühl seiner Zeit, in einer Periode des moralischen Niedergangs zu leben (Mappō). Verbunden damit war eine vertiefte Erfahrung des Glaubens an Amida, die Erkenntnis, dass der Mensch seiner Erlösung um so gewisser sein kann, je mehr er um seine eigene Unzulänglichkeit weiß, je tiefer er versteht, dass selbst sein Glaube nicht auf seiner eigenen Kraft beruht. Wie im Christentum gehören hier also tiefere Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit und vertiefte Glaubenserfahrung zusammen und bedingen sich gegenseitig. [ausführlicher zu den buddhistisch-christlichen Konvergenzen]
Dem entspricht Shinrans Selbstbezeichnung als Gutoku, was so etwas wie dummer Kahlkopf bedeutet, und damals anscheinend zur Bezeichnung eines Priesters gebraucht wurde, der sich nicht an die für buddhistische Priester geltenden Regeln hielt. Allerdings kann man bei Shinran nicht, wie manche Forschende es tun, von Sündenbewusstsein sprechen. Die von ihm verwendeten Begriffe bedeuten Vergehen, Verbrechen, allenfalls Übel oder Böses. Hinzu kommt die Betonung des Karma, der unausweichlichen Verstrickung in das Gesetz von Ursache und Wirkung auch im Bereich des moralischen Übels, die sich vom persönlichen Sündenbewusstsein im Christentum unterscheidet. Bei Shinran, wie auch sonst im Buddhismus, umfasst die menschliche Unzulänglichkeit überdies noch mehr, nämlich auch blinde Leidenschaften und vor allem Unwissenheit, weshalb ja auch das Heil als Erleuchtung bezeichnet wird. [mehr dazu] Dass Shinran sich so offen und sogar selbstironisch zu seinem gefallenen Zustand bekennt, zeigt, wie sehr er offenbar sich selbst in all seiner Unzulänglichkeit angenommen hat, weil er sich von Amida bedingungslos angenommen weiß.
Das hat nun eine Reihe von teils radikalen Konsequenzen. Erlösung ist bei Shinran eine persönliche Glaubenserfahrung, eine unmittelbare Beziehung zwischen Amida und dem einzelnen, dem Amida seine Verdienste zuwendet. So kann Shinran sagen, wie es im Tannishō heißt, dass Amidas Gelübde nur für ihn, Shinran, allein sei, eine ganz erstaunliche Aussage innerhalb der japanischen Geistesgeschichte. Mit dieser inneren Erfahrung zusammenhängen dürfte auch das wachsende Selbstbewusstsein, mit dem Shinran seine neu gewonnenen Einsichten vertritt und lebt. Dabei handelt es sich natürlich nicht um Stolz auf die eigene Kraft, sondern um das Vertrauen auf das Wirken der Anderen Kraft (Tariki) in ihm.
Das zeigt sich auch in einem anderen bekannten Wort Shinrans im Tannishō, nämlich dass er nicht einmal einen einzigen Schüler habe. Diese Ablehnung des traditionell so wichtigen Lehrer-Schüler Verhältnisses rüttelt an den Grundlagen nicht nur der religiösen Organisationen in Japan, sondern auch an denen des gesellschaftlichen Systems überhaupt, insbesondere wenn man noch Shinrans Relativierung des Kind-Eltern-Verhältnisses (ibid.) hinzunimmt. So hat sie sich denn auch, ist man geneigt hinzuzufügen, selbst im Shin-Buddhismus von Anfang an nicht durchsetzen können.
Shinran begründet die Tatsache, daß er keinen Schüler hat, damit, dass er durch eigene Kraft niemand zum Glaube führen könne, weil Glaube immer das Wirken Amida Buddhas sei (ibid.). Vor Amidas Ur-Gelübde (Hongan) sind alle gleich, ob jung oder alt, gut oder böse, wie es an anderer Stelle im Tannishō heißt (ibid.). Shinran dreht sogar die traditionellen Wertvorstellungen um, wenn er sagt (um nun auch das bekannteste Wort aus dem Tannishō zu zitieren): Sogar ein guter Mensch wird im Reinen Land geboren, um wie viel mehr ein schlechter! (ibid.) Sätze wie diese bedeuteten nicht nur eine Herausforderung an die etablierten buddhistischen Schulen, sondern konnten auch als Infragestellung der traditionellen Wertvorstellungen einer streng hierarchisch gegliederten Gesellschaft verstanden werden. Dies könnte auch der Grund sein, warum das Tannishō in den ersten Jahrhunderten nach Shinrans Tod anscheinend nur wenigen Gläubigen zugänglich gemacht wurde.
Shinrans Denken stellt in seiner Konsequenz das Heilsmonopol der etablierten religiösen Gruppen radikal in Frage, nämlich ihren Anspruch, Lehren, Übungen und Rituale zu besitzen, die allein den Menschen zum Heil führen können. Im Gegensatz dazu ist Shinrans Weg zum Heil allen zugänglich. Man braucht dazu nicht Mönch zu werden oder sein Leben zu ändern, nicht einmal ein Lehrer-Schüler-Verhältnis ist dazu nötig. Das war Shinrans grundlegende Erfahrung in Echigo, wo er ganz auf sich allein gestellt, als Laie lebend und gerade aus der tiefsten Erfahrung seiner Unzulänglichkeit heraus zu einem vertieften Glauben kam.
Das Beglückende dieser Glaubenserfahrung und die Dankbarkeit gegenüber Amida waren dann offenbar das Motiv für den Beginn von Shinrans Missionstätigkeit in Hitachi. Sie entstand aus dem Wunsch, möglichst vielen Menschen eine ähnliche Glaubenserfahrung zu ermöglichen. Dabei wandte er sich vor allem wohl an Menschen auf dem Land und andere aus den unteren Schichten, deren Leben er in Echigo geteilt hatte. Die erzwungene Laisierung während seines Exils wird der Anlass zu einer neuen Lebensform, wo er einerseits wie ein Laie sich nicht an die Mönchsregeln hält und eine Familie hat, andererseits aber als Jünger Buddhas sich ganz dem Studium und der Verbreitung der buddhistischen Lehre widmet.
Die Entwicklung nach Shinran bis heute [ausführlicher dazu]
Als Shinran starb, hatte er bereits eine große Zahl von Anhängern, besonders in der Gegend nördlich von Tokyo, wo er missioniert hatte. Diese schufen sich ihre eigenen religiösen Zentren (Dōjō), die oft auch zu Zentren der Dorfgemeinschaft wurden und diese so aus der Abhängigkeit von Tempeln und anderen feudalen Strukturen lösten. Sie ermöglichten die gleichberechtigte Teilnahme auch der unteren sozialen Schichten. In manchen Gegenden Japans bildeten sich daraus mächtige Verbände von Shinshū-Gläubigen, meist Bauern und Handwerker, was seit dem 14. Jahrhundert zu zahlreichen Aufständen (Ikkō Ikki) führte. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts und teilweise darüber hinaus, konnten sie sich eine gewisse Unabhängigkeit innerhalb der Feudalgesellschaft bewahren.
Aber schließlich setzten sich auch im Shin-Buddismus die traditionellen Werte einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft durch. So konnten Shinrans Nachkommen die verschiedenen Gruppen unter der Führung ihres Haupttempels in Kyoto, dem Honganji, vereinen zur mächtigsten religiösen Gemeinschaft in der japanischen Geschichte. Die strikte Kontrolle der Untertempel, die absolute Autorität gegenüber den Gläubigen deren Seelenheil betreffend (was Exkommunikation und sogar Todesstrafe einschloss) und die enge Kooperation mit den staatlichen Autoritäten, all dies stand in krassem Gegensatz zu Shinrans Haltung und Lehre. Und doch blieb innerhalb des Shin-Buddhismus viel vom Geist Shinrans lebendig, wie sich zunehmend seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und bis heute zeigt.
Am Beginn der Meiji-Zeit (1868-1912) entstand im Zusammenhang mit der Wiederbelebung shintoistischer Traditionen und dem Kaiserkult eine starke anti-buddhistische Bewegung, die sogar zu Verfolgungen von Buddhisten führte. Das bewirkte bei diesen einerseits eine noch stärkere Anlehnung an den Staat. Diese erreichte ihren Höhepunkt zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, als auch im Shin-Buddhismus der damalige Militarismus und Kaiserkult unterstützt wurde.
Andererseits mehrten sich die Stimmen, die Reformen und eine Rückkehr zum Geist Shinrans forderten. Konkret zeigte sich das etwa darin, dass das zeitweise sogar verbotene Tannishō wieder mehr Beachtung fand und zu einem neuen Problembewusstsein gegenüber sozialen und politischen Fragen führte, besonders bei Shinshū Reformern, aber auch bei vielen anderen Intellektuellen am Beginn des 20. Jahrhunderts. Shinran wurde geradezu wiederentdeckt und und populäre Darstellungen von Shinrans Leben bewirkten einen regelrechten Shinran-Boom auch in der breiteren Bevölkerung. Innerhalb des Shin-Buddhismus zeigen frühe demokratische Bestrebungen und, seit den sechziger Jahren, große soziale Bewegungen, wie sehr der Geist Shinrans auch in der heutigen modernen Gesellschaft Japans lebendig ist im Kampf gegen Diskriminierung, für soziale Gerechtigkeit und Frieden. Erstaunlich bleibt dabei, wie ein unscheinbarer buddhistischer Mönch aus dem 13. Jahrhundert bis heute einen solchen Einfluss haben und im Bewusstsein vieler Menschen in Japan so präsent sein kann. Der Grund dafür dürfte vor allem in seiner Persönlichkeit liegen und in dem emanzipatorischen Potential, das er aufzeigt und das gerade auch für die heutige japanische Gesellschaft relevant sein dürfte. [mehr dazu]
Zurück zum Seiteninhalt